Teil I findet ihr hier.
Ein weiterer positiver Wendepunkt für Marie Juchacz und die Frauen ihrer Zeit ist der Erste Weltkrieg, so seltsam dies klingt. Innerhalb kurzer Zeit steigt die Zahl der Armen und Hilfebedürftigen dramatisch an. Frauen übernehmen nun vermehrt Arbeiten, die zuvor von Männern erledigt wurden. Dazu kommt, dass Fürsorge seit jeher „Frauenarbeit“ ist; Organisationen wie die Nationale Frauengemeinschaft, für die Juchacz während des Kriegs arbeitet, leiten Kindergärten, Beratungsstellen für Frauen von Kriegsteilnehmern und für Kriegshinterbliebene, Flüchtlingsquartiere, Hauspflege für Kranke und Invalide sowie Anstalten für Armenpflege und Kriegsfürsorge. Juchacz richtet eine Werkstatt ein, in der Bekleidung für die Armee hergestellt wird, und beschafft somit Arbeit für Heimarbeiterinnen. Ihre Werkstatt zahlt den Arbeiterinnen höhere Löhne als die Industrie und sichert ihnen so ein Einkommen.
Damit findet sich hier schon der Ansatz von „Hilfe zur Selbsthilfe“. Eine moderne Wohlfahrt unterscheidet sich zudem stark von dem, was von staatlicher oder bürgerlicher Seite an Hilfestellung bekannt ist: Nicht die Symptome von Armut sollen bekämpft, sondern die Ursachen von Armut beseitigt werden. Deshalb ist es ein frühes Ziel der Arbeiterwohlfahrt, den Staat mehr in die Pflicht zu nehmen. Auf der ersten Reichskonferenz der Arbeiterwohlfahrt im Jahr 1921 hält die Sozialreformerin und Frauenrechtlerin Helene Simon die angedachte Aufgabenverteilung so fest:
„Die Verhütung von Klassenarmut durch Bekämpfung der Ursachen der Armut, was zum größten Teil nicht Spezialaufgabe der Wohlfahrtspflege, sondern Aufgabe der allgemeinen Politik sei. Aufgabe der Wohlfahrtspolitik dagegen sei es, die überkommenen armenrechtlichen und polizeilichen Maßnahmen durch solche vorbeugender, heilender und vorsorgender Natur zu ersetzen.“
Der Staat in der Pflicht
Der Staat, da sind sich Juchacz und die Sozialdemokrat:innen einig, muss seine Armenhilfe verbessern. Jede:r soll Rechtsanspruch auf Hilfe haben, auch bei deren Einklagung wird die Arbeiterwohlfahrt später unterstützen. Doch weil niemand weiß, wann und wie diese staatlichen Reformen erfolgen werden, und vor allem angesichts der steigenden Armut bleibt keine Zeit, darauf zu warten. Dass gerade die SPD eine parteinahe Organisation zu diesem Zweck gründet, passt in den Fluss der Zeit. Schließlich ist sie, gestärkt durch die Novemberrevolution, als stärkste Partei aus den ersten gesamtdeutschen demokratischen Wahlen hervorgegangen und nun in der Position, als Regierungspartei Akzente setzen zu können. Zudem gibt es bereits kirchennahe und bürgerliche Organisationen, die Wohlfahrt leisten, wie die Caritas, aber noch keine von der Arbeiterklasse getragene.
Die AWO in der Gründungsphase unterscheidet sich von den bestehenden Wohlfahrtsorganisationen in zwei weiteren Punkten: Ihre Mitarbeiter:innen werden geschult und fortgebildet. Außerdem arbeiten im Gegensatz zu engagierten bürgerlichen Kreisen Mitarbeiter:innen der AWO nicht mehr ausschließlich ehrenamtlich. 1928 wird daher in Berlin die erste Wohlfahrtsschule gegründet, eine Ausbildungsstätte der sozialen Arbeit. Die Teilnehmer:innen erhalten Stipendien, damit sie ohne finanzielle Not ihre Ausbildung an der Schule abschließen können. In Zeiten politischen Wandels und noch relativ geringer sozialer Rechtsansprüche stellen die AWO und ihre Angebote eine Konstante in der Gesellschaft dar, besonders in der Arbeiterschaft.
Die Bedeutung der AWO-Gründung heute
Erstaunlich viel von dem, was Marie Juchacz zur Gründung der Arbeiterwohlfahrt bewegte, spielt für uns noch heute eine Rolle. So etwa die Frage, wie viel Verantwortung der Staat für die Armenfürsorge trägt und wie viel davon unabhängige Institutionen leisten können und müssen.
Brandaktuell ist auch das Motto der AWO: Hilfe zur Selbsthilfe. In diesem Satz steckt der zutiefst demokratische Gedanke, die Bürger:innen zur Mündigkeit zu befähigen. Ein anderes Wort für Mündigkeit ist Handlungsfähigkeit. Sich um Hilfebedürftige zu kümmern, ist zweifellos gut und richtig. Doch auf Dauer ist Menschen dann geholfen, wenn sie in die Lage versetzt werden, sich selbst zu helfen. Abhängigkeiten müssen abgebaut, Chancen und Perspektiven geschaffen werden.
Marie Juchacz war jahrelang in der Politik aktiv, bevor sie eins der wesentlichsten politischen Rechte erhielt: das Wahlrecht. Wer weiß, wie lange sie die Idee einer Wohlfahrt mit sich herumtrug, bevor sie die Chance sah, diese umzusetzen?
Zwei Dinge lernen wir aus ihrem demokratischen Handeln: Erstens, dass für gute Ideen die richtige Zeit kommen wird und wir dann nicht zögern dürfen, die Gelegenheit zu nutzen. Und zweitens, dass Demokratie, egal ob in Partei, Politik oder in unserer Gesellschaft, fürsorgend, aber nicht herabschauend sein sollte.
Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Publikation Vorbilder der Demokratiegeschichte. Handlungen und Einstellungen, die beeindrucken und Orientierung geben können. Diese und weitere Veröffentlichungen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. können kostenfrei in der Geschäftsstelle bestellt werden und stehen hier zum Download zur Verfügung.
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