Demokratiegeschichten

Hilfe zur Selbsthilfe leisten – Marie Juchacz und die Gründung der Arbeiterwohlfahrt (I)

Die besondere Handlung

Es ist der 13. Dezember 1919. An diesem Samstag tagt der Parteiausschuss der SPD in Berlin. Als einzige Frau im Ausschuss ist auch Marie Juchacz vor Ort, Reichstagsabgeordnete und Frauensekretärin der Partei. In dieser Sitzung richtet sie das Wort an die anderen Mitglieder und bringt eine Idee ein, die ihr schon seit Längerem vorschwebt:

„Ich habe Ihnen heute auch einen neuen Organisationsvorschlag zu machen“, sagt Juchacz im Ausschuss. „Nun geht mein Vorschlag mit Billigung des Parteivorstandes dahin, dass wir innerhalb der Parteiorganisation eine sozialdemokratische Wohlfahrtspflege konstituieren. Ich schlage vor, dass wir zunächst eine Zentralinstanz schaffen, einen Ausschuss, und dass wir dann im Rahmen unserer Bezirke Landes- und örtliche Organisationen, Wohlfahrtsausschüsse, bilden.“

Marie Juchacz Vorschlag wird angenommen, der Ausschuss in Berlin ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um das erste Organ der Arbeiterwohlfahrt, die noch heute aktiv und vielen unter der Abkürzung AWO bekannt ist. Juchacz wird deren erste Leiterin.

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Unter ihrem Vorsitz und dem Dach der AWO – stets eingebunden in das sozialdemokratische Milieu der SPD, Gewerkschaften und Arbeitervereine – werden im Land bald zahlreiche Einrichtungen aufgebaut, die die Not der Arbeiter:innen verringern sollen. Dazu gehören beispielsweise Kur- und Altersheime, Notküchen, Werkstätten für Behinderte, Selbsthilfenähstuben und Organisationen, die Kinderlandverschickungen (Erholungsverschickungen) vornehmen.

Entscheidend für die Art des Aufbaus der AWO ist deren Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“. Ziel ist es nicht, einfach „nur“ Bedürftige zu versorgen. Vielmehr soll die Arbeiterwohlfahrt ihnen Anleitung und Möglichkeiten an die Hand geben, sich auf Dauer selbst aus ihrer Armut zu befreien. „Hilfe zur Selbsthilfe“ – ein moderner Begriff dafür wäre wohl Empowerment.
Arbeiterwohlfahrt bedeutet aber nicht nur Wohlfahrt für Arbeiter:innen. Marie Juchacz schreibt in der Einleitung zu ihrem Buch über die Arbeiterwohlfahrt:

„Eine Wohlfahrtspflege, ausgeübt durch die Arbeiterschaft. Eine Organisation, hervorgewachsen aus der Arbeiterbewegung, mit dem bewußten Willen, in das große Arbeitsgebiet der Wohlfahrtspflege ihre Ideen hineinzutragen, die Idee der Selbsthilfe, der Kameradschaftlichkeit und Solidarität, aber auch die Idee, daß Wohlfahrtspflege vom Staat und seinen Organen betrieben werden muß, und daß auch diese Arbeit bewußt ausgeübt werden muß von lebendigen Menschen.“

Und noch ein weiteres Anliegen bringt Juchacz in die AWO ein. Die Organisation fördert die Weiterbildung und Qualifizierung von Frauen. Sowohl auf beruflicher als auch auf politischer Ebene werden Mädchen und Frauen speziell unterstützt. Aufgrund ihrer eigenen Biografie ist dies Marie Juchacz besonders wichtig.

Während der 1920er Jahre wächst die AWO rasch. Bereits 1926 gibt es fast 2.000 Ortsausschüsse, ab 1928 erscheint zweimal im Monat die Zeitschrift Arbeiterwohlfahrt. 1931 sind 135.000 ehrenamtliche Helfer:innen in der AWO tätig.

Der historische Kontext

Berliner Gedenktafel am Haus Schmausstraße 83 in Berlin-Köpenick
Berliner Gedenktafel in der Schmausstraße 83, Berlin-Köpenick; Foto: OTFW.

Vieles, was die AWO ausmacht, lässt sich an Marie Juchacz’ Biografie erklären. Sie wird 1879 in Landsberg an der Warthe als Marie Gohlke geboren. Durch verschiedene Tätigkeiten, unter anderem als Dienstmädchen, Fabrikarbeiterin und Krankenschwester, spart sie genug Geld an, um eine Ausbildung zur Schneiderin absolvieren zu können. Daraufhin arbeitet sie in der Schneiderwerkstatt von Bernhard Juchacz, den sie 1903 heiratet. Doch nach wenigen Jahren, 1906, lässt sie sich von ihrem Mann scheiden und steht nun vor einem Problem: Geschiedene Frauen haben es sehr viel schwerer, Kundschaft zu finden.

Generell steht Marie Juchacz als geschiedene Frau mit Kindern im Kaiserreich schlecht da. Zwar hat die erste Frauenbewegung Frauen mehr Möglichkeiten zur Bildung und Teilhabe eröffnet, doch auch nach der Jahrhundertwende sind Frauen Untertanen zweiter Klasse, denen wichtige Rechte wie das zur politischen Beteiligung verwehrt bleiben.

Damit einher geht ein Verständnis, dass nicht alle Hilfebedürftigen auch Hilfe verdienen. Wer sich „selbstverschuldet“ in Not gebracht oder in den Augen der Gesellschaft sündhaft gehandelt hat, kann keine Unterstützung erwarten. Dies trifft unter anderem alleinerziehende Frauen, „gefallene Mädchen“ und Familien mit vielen Kindern; vornehmlich also Menschen aus der Arbeiterklasse.

Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ändern sich langsam die Bedingungen für Frauen. 1908 erlaubt Preußen ihnen, in Parteien aktiv zu sein. Marie Juchacz und ihre Schwester ziehen daraufhin nach Berlin und treten der SPD bei, deren Ideen sie dank ihres älteren Bruders schon kennengelernt haben. Bald sind sie in Frauenvereinen aktiv und mischen in den sozialdemokratischen Kreisen der preußischen Hauptstadt mit.

Teil II folgt am 06.10.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Publikation Vorbilder der Demokratiegeschichte. Handlungen und Einstellungen, die beeindrucken und Orientierung geben können. Diese und weitere Veröffentlichungen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. können kostenfrei in der Geschäftsstelle bestellt werden und stehen hier zum Download zur Verfügung.

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

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