Demokratiegeschichten

Von einer Elitenvertretung zur Massenbewegung – der Indische Nationalkongress

Keine andere Partei hat die indische Demokratie so sehr geprägt wie der Indische Nationalkongress (INC). Seit etwa einhundert Jahren beeinflusst er maßgeblich die Geschichte dieses südasiatischen Landes. Gegründet wurde er sogar noch früher.

Dann doch Unabhängigkeit statt Zusammenarbeit

Am 28. Dezember 1885 beginnt die dreitägige Gründungsveranstaltung in Bombay, was den INC zu einer der ältesten demokratischen Parteien der Welt macht. Ursprünglich ist er gedacht als gemeinsame Interessenvertretung von Angehörigen sowohl des hinduistischen als auch des muslimischen Glaubens in Britisch-Indien. Er setzt sich dafür ein, Angehörigen der gebildeten Schicht den Zugang zu Stellen in der Kolonialverwaltung zu vereinfachen.

Der Kongress wird aber zunehmend zur Partei der modernen, säkular und linksliberal orientierten Hindus, woraufhin sich der muslimische Flügel 1906 mit der Gründung der Muslimliga schließlich abspaltet. Die konkurrierenden Parteien arbeiten aber trotzdem gelegentlich zusammen, etwa beim Lucknow-Pakt. Darin sprechen sie sich beide für eine indische „Selbstregierung“ aus. Ihr Ziel ist die Erlangung des Dominion-Status innerhalb des British Empire.

Mohandas Gandhi mit der Dichterin und Politikerin Sarojini Naidu während des berühmten Salzmarsches (1930), Foto: gemeinfrei

Mit der Zeit weicht dieser Wunsch jedoch einem noch größeren Ziel: der vollkommenen Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien. Dieser Teil der INC-Geschichte lässt sich nicht ohne eine der wohl bekanntesten Persönlichkeiten der Weltgeschichte erzählen: Mohandas Karamchand Gandhi. Unter ihm und Jawaharlal Nehru, einem seiner engsten Vertrauten innerhalb des INC, führt der Kongress den Unabhängigkeitskampf gegen Großbritannien an.

Am Verhandlungstisch mit den Besatzern

In der Zwischenkriegszeit ist dabei der gewaltfreie Widerstand die Methode der Wahl. Die Unterstützung für den INC wächst schnell und er wird zunehmend von einer Partei der elitären, westlich gebildeten Intellektuellen zu einer populären Massenbewegung. Dies führt dazu, dass der Kongress immer mehr als Vertreter indischer Interessen gegenüber der britischen Kolonialmacht auftritt und auch so wahrgenommen wird.

Im Government of India Act (1935) erhält Britisch-Indien dann tatsächlich eine weitgehende Autonomie von Großbritannien. Bei den ersten Wahlen zu den Provinzialvertretungen gewinnt der INC acht von 11 Provinzen. Als aber wenige Jahre später der Zweite Weltkrieg ausbricht und Großbritannien eigenmächtig den Kriegseintritt Britisch-Indiens erklärt ohne dies davor mit den indischen Volksvertretern zu besprechen, treten die INC-Provinzialregierungen aus Protest zurück.

Mohandas Gandhi und Subhas Chandra Bose auf einem INC-Treffen (1938), Foto: gemeinfrei

Der frühere Parteipräsident Subhash Chandra Bose flieht sogar aus dem Land, nachdem die britische Kolonialregierung ihn unter Hausarrest stellt. Im Ausland, erst in Deutschland, dann in Japan, baut er eine Armee des „Freien Indien“ auf. Gandhi wiederum bleibt seinem gewaltfreien Kurs treu. Er setzt sich den ursprünglichen Idealen des INC folgend weiterhin für eine politische Einheit von Hindus und Muslimen ein. Mit der Bewegung Quit India (1942) fordert er die Briten dazu auf, Indien zu verlassen.

Eine verhängnisvolle Teilung

Als Indien nach dem Zweiten Weltkrieg am 15. August 1947 die Unabhängigkeit erlangt, scheitert Gandhi aber. Denn die mehrheitlich muslimischen Landesteile werden unter dem Namen Pakistan abgetrennt und bilden einen eigenen Staat. Diese Teilung wird in den kommenden Jahren zu zahlreichen Gewaltausbrüchen und Gräueltaten führen.

Jawaharlal Nehru und Mohandas Gandhi auf einem Treffen des INC (1946), Foto: Max Desfor an Dave Davis, gemeinfrei

Erster Premierminister des hinduistischen Indiens wird Jawaharlal Nehru. Gandhi hingegen zieht sich, auch frustriert von der Art und Weise, wie Indien seine Unabhängigkeit schlussendlich erlangt hat, zunehmend aus der Politik zurück. Im Januar 1948 wird er von einem nationalistischen Hindu ermordet.

Bis zur Unabhängigkeit Indiens war die Massenbewegung INC für zahlreiche verschiedene Gesellschaftsgruppen eine Anlaufstelle gewesen. Sie alle vereinte der Kampf gegen die britische Kolonialherrschaft. Doch diese Klammer fällt nun weg.

Eine demokratische Einheitspartei?

Im Laufe der Jahrzehnte kommt es deshalb immer wieder zur Gründung von Untergruppierungen innerhalb der Partei oder gar zu Abspaltungen vom Kongress. Doch trotzdem kann er seine zentrale Stellung in der indischen Politik behaupten, nimmt im indischen Staat de facto die Rolle einer Staatspartei ein. Bis 1977 stellt er ununterbrochen die Premierminister*innen und Staatspräsidenten und auch danach fast durchgehend, nur mit kurzen Unterbrechungen.

Premierministerin Indira Gandhi, Tochter von Jawaharlal Nehru (1967), Foto: gemeinfrei

Über beinahe die gesamte Zeit ihrer Existenz hinweg wird die Partei geprägt vom Nehru-Gandhi-Clan, der damit auch maßgeblich die Geschichte Indiens und seiner Demokratie prägt. Dabei entfernt sich die Partei bisweilen gefährlich weit von ihren demokratischen Grundsätzen, etwa unter Indira Gandhi, welche in den 1970er Jahren für längere Zeit mit quasi-diktatorischen Machtbefugnissen regiert.

Die enorme Bedeutung des INC für die indische Demokratieentwicklung sollte aber trotzdem nicht unterschätzt werden. Nicht nur hat er maßgeblich dafür gesorgt, dass Indien ein unabhängiger demokratischer Staat wird. Auch in den Jahrzehnten seit der Gründung hat er das demokratische System und dessen Gesellschaft geformt. Eigentlich erst 2014, nach der Wahl des Hindu-Nationalisten Narendra Modi, verliert der Kongress ein Stück weit seine dominierende Stellung in der indischen Politik.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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