Demokratiegeschichten

Neue Strukturen aufbauen – Uta Leichsenring und die Polizei (I)

Potsdam, im Frühjahr 1991.

Bewegte Zeiten für Uta Leichsenring. Zuerst 1989 die Friedliche Revolution, dann beteiligt sie sich an der Auflösung der Stasi in Potsdam. Seit nicht einmal einem Jahr leitet die 40-Jährige die Potsdamer Außenstelle der neu gegründeten Stasiunterlagenbehörde, deren Aufgabe es ist, Opfern der SED-Diktatur Akteneinsicht zu ermöglichen und damit herauszufinden, wie perfide das Spitzelsystem des DDR-Unrechtsstaates arbeitete.

Da fragt sie der Brandenburgische Innenminister Alwin Ziel, ob Sie bereit wäre, beim Neuaufbau der Polizei im Land Brandenburg zu helfen. Genauer: in Eberswalde. Und nicht einfach irgendwie helfen, sondern als Polizeipräsidentin des noch zu gründenden Polizeipräsidiums Eberswalde den Aufbaustab leiten.

Alwin Ziel als Volkskammerbeauftragter 1990. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0705-330/Schöps, Elke/CC BY-SA 3.0

Wahl zwischen zwei wichtigen Stellen

Uta Leichsenring gibt zunächst keine Antwort, sie ist völlig überrascht und bittet um Bedenkzeit. Nicht ein paar Tage, sondern mehrere Wochen. Sie berät sich mit Freund:innen, die ihr raten, die Stelle anzunehmen. Sie selbst ist sich unsicher, denn sie hängt auch an ihrer Potsdamer Tätigkeit. Ihre Gefühlssituation beschreibt sie in einem Interview 2021:

„Und wir haben gerade diese Behörde und damit auch die Außenstellen aufgebaut und da ist es mir nicht so leichtgefallen. Denn beides war neu, beides fand ich unglaublich wichtig und habe mich dann aber entschieden, diesen Aufbaustab für die neue Polizei in Eberswalde zu leiten, wohl wissend, dass es wohl ein Risiko auch für mich selber war.“

Ihr ist klar: Die ehemalige Volkspolizei, die in der DDR ein Teil des Unterdrückungsapparates war, nach rechtsstaatlichen Prinzipien zu reformieren, ist eine Mammutaufgabe, an der man sehr leicht scheitern kann. Und der Zeitdruck ist enorm, denn die Polizei muss funktionieren, ihre Aufgaben liegen buchstäblich auf der Straße. Schon sind mancherorts rechtsfreie Räume entstanden und rassistisch motivierte Jugendgewalt bricht sich Anfang der 1990er Jahre Bahn. Auch in Eberswalde, wo sich 1990 ein rassistischer Mord ereignet.

Wem überlässt man das Feld?

Uta Leichsenring denkt auch an ihre Familie, ihr jüngster Sohn ist damals erst elf. Aber ihr Mann sagt ihr zu, sich um die Kinder zu kümmern, wenn sie die Stelle in Eberswalde annimmt. Sie überlegt auch:

„Es ist immer die Frage – wem überlässt man das Feld, wenn man das nicht macht.“

Jemandem aus den Reihen der altgedienten Polizeiführer diese wichtige Aufgabe zu überlassen, der dann alles so machen würde, wie er es im SED-Staat gelernt hat, das war für Uta Leichsenring eine schwer zu ertragende Vorstellung.

Dann, nach Wochen der Entscheidungsfindung und vielen Gesprächen, sagt sie zu. Am 1. Juli 1991 ernennt der Brandenburgische Innenminister sie zur ersten Polizeipräsidentin des neu geschaffenen Präsidiums Eberswalde. Sie beginnt vom ersten Tag an, neue Strukturen zu schaffen, setzt auf Fort- und Weiterbildung der Polizist:innen. Und auf einen guten Draht zur Zivilbevölkerung.

Volkspolizisten im Dezember 1989 in Berlin. Quelle: F. Lee Corkran, gemeinfrei

Nicht mehr der verlängerte Arm einer systematisch unterdrückenden und manchmal willkürlich auftretenden Staatsmacht zu sein, das verlangt ein Umdenken der früheren Volkspolizist:innen. Es braucht jemanden, der von außerhalb der alten Strukturen kommt, um Polizei neu und demokratisch zu denken. Und jemanden, der seine Erfahrungen mit der alten Staatsmacht gemacht hat und genau weiß, dass sie ein demokratisches Staatswesen und kein repressives Unrechtssystem mehr haben will. Jemanden wie Uta Leichsenring.

Aktiv in der Bürgerrechtsbewegung

Uta Leichsenring wird 1950 in Radebeul in Sachsen geboren, ein Jahr nach Gründung der DDR. Sie wächst in Wilhelmshorst bei Potsdam auf und wird zunächst Facharbeiterin für Datenverarbeitung und Ökonomin für Organisation und Datenverarbeitung.

Sie schließt sich der Bürgerrechtsbewegung in der DDR an und erlebt die Friedliche Revolution 1989. Über diese Zeit berichtet sie:

„Aber da muss ich sagen, ich bin kein Mensch, der nur die Sicherheit sucht. Deswegen war es 1989/90 auch für mich wie so eine sehr persönliche Befreiung, dass ich mich endlich einbringen konnte und mitwirken konnte.“

Einbringen und mitwirken, das wird fortan ihr Lebensmotto. Als im Dezember 1989 bekannt wird, dass der Staatssicherheitsdienst der DDR seit Wochen Akten vernichtet, um die Beweise für Überwachung und Repression zu zerstören, besetzen Bürger:innen die Stasidienststellen. Um die Akten sicherzustellen und die Dienststellen aufzulösen, bilden sich Bürgerkommissionen. Eine Freundin bittet Uta Leichsenring aus Zeitnot, statt ihrer an dem ersten Treffen der Bürgerkommission in Potsdam teilzunehmen. Daraufhin wird sie Mitglied der Kommission, die von Altkadern der Stasi unterwandert ist, weshalb Leichsenring sie schnell wieder verlässt. Sie merkt, dass es immer noch systemtreue Funktionäre gibt, die sich gegen alles Neue wehren. Eine Erfahrung, die sie später auch als Polizeipräsidentin machen wird.

Aufbauarbeit und Neuanfang

1990 wird sie Beauftragte eines Parlamentarischen Sonderausschusses, der die Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit kontrollieren soll. Der Vorsitzende dieses Ausschusses ist Joachim Gauck, der Rostocker Pfarrer, der sich um die Friedliche Revolution verdient gemacht hat. Er steht nun dafür ein, dass das Spitzelsystem der DDR aufgedeckt wird und die Opfer der staatlichen Ausspähung und Repression Einsicht in ihre Akten erhalten können. Uta Leichsenring leistet in seinem Sinn Aufbauarbeit in Potsdam und organisiert die dortige Außenstelle der sich in Gründung befindenden Stasiunterlagenbehörde. Hier tritt sie als engagierte Planerin auf, was Innenminister Alwin Ziel vermutlich dazu bewegt, sie für die Stelle an der Spitze der Eberswalder Polizei vorzuschlagen.

Dass sie keine polizeiliche Ausbildung hat und auch keine Juristin ist, sieht er in dieser besonderen Situation des Systemwechsels nicht als Mangel an Qualifikationen. Uta Leichsenring steht als Bürgerrechtlerin sehr deutlich für den Neuanfang, zugleich ist sie aber jemand aus Brandenburg, kennt die Region, ist kein Westimport.

Teil II erscheint am 23.12.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Publikation Vorbilder der Demokratiegeschichte. Handlungen und Einstellungen, die beeindrucken und Orientierung geben können. Diese und weitere Veröffentlichungen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. können kostenfrei in der Geschäftsstelle bestellt werden und stehen hier zum Download zur Verfügung.

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Dennis R. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

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