Demokratiegeschichten

Neue Strukturen aufbauen – Uta Leichsenring und die Polizei (II)

Teil I findet ihr hier.

Die Herausforderungen, auf die Uta Leichsenring bei ihrem Amtsantritt stößt, sind überwältigend. Verkehrsunfälle und Straftaten nehmen rasant zu. Seit Monaten mehren sich die Meldungen zu gewalttätigen Ausbrüchen und rassistischen Angriffen. Die Freiheit der noch nicht etablierten demokratischen Ordnung wirkt für manche zunächst wie ein rechtsfreier Raum. Der Zusammenbruch des alten Systems ist in Teilen Ostdeutschlands
wie ein Ventil für Radikalisierung und Gewalt, besonders bei jungen Menschen.

In Eberswalde kommt es etwa in der Nacht auf den 25. November 1990 zu einem rassistischen Mord, der auch Uta Leichsenring immer wieder beschäftigt. Ein Mob rechtsextremer und rechtsorientierter Jugendlicher macht dort regelrecht Jagd auf Schwarze Menschen. Der 28-jährige angolanische Vertragsarbeiter Amadeu Antonio wird dabei brutal zusammengeschlagen und erliegt am 6. Dezember 1990 seinen Verletzungen.

Die Amadeu Antonio Stiftung setzt sich in Gedenken an den schrecklichen Mord im Dezember 1990 bis heute für eine demokratische Gesellschaft und gegen Rechtsextremismus ein.

Dieser Mord, da ist sich Uta Leichsenring sicher, hätte verhindert werden können. Polizist:innen griffen nicht ein, obwohl sie informiert und vor Ort waren. Für Uta Leichsenring wird der kurz vor ihrem Amtsantritt geschehene Mord an Amadeu Antonio zu ihrem ganz persönlichen „Nie wieder“. Nie wieder sollten „ihre“ Polizist:innen rassistische Gewalt tatenlos und überfordert hinnehmen und Deeskalation mit Nichtstun verwechseln.

Was darf die Polizei im neuen Staat?

In späteren Interviews analysiert sie die innere Verfasstheit der Polizei in der Situation des Systemwechsels von der Diktatur in die Demokratie. Sie nimmt eine völlige Verunsicherung der Polizist:innen wahr. Ausgebildet und eingesetzt im militärisch strukturierten SED-Staat, wissen sie nun nicht mehr, welche Regeln für sie gelten.

Was dürfen sie und was nicht, wie sollen sie den Bürger:innen gegenüber auftreten?

Für Uta Leichsenring ist klar:

„[…] eine neue Polizei kann man sich nicht backen. Die können wir ja nicht alle nach Hause schicken und dann erst mal neu ausbilden.“

Der zunehmenden Kriminalität und der rassistischen Jugendgewalt muss schnell etwas entgegengesetzt werden und für Uta Leichsenring steht fest, „es sollte natürlich nicht militärisch etwas entgegengesetzt werden“.

Rechtsextreme Ausbrüche in den 90er Jahren

Das Problem des Rechtsextremismus beschäftigt sie während ihrer gesamten Dienstzeit bis 2002 und darüber hinaus. Denn die frühen rechtsextremen Ausbrüche scheinen sich im Laufe der 1990er Jahre zu verfestigen. Republikaner und die NPD gründen Netzwerke, versuchen Jugendliche in ihre Gefüge einzubinden und samt ihrer diffusen Rechtsorientierung und allgemeinen Ablehnung Andersdenkender in ein
festeres ideologisches Korsett zu stecken. Neben der Aufgabe, parteiliche Strukturen aufzubauen, organisieren die Rechtsextremisten Konzerte und Sommercamps.

Im sogenannten „Sonnenblumenhaus“ in Rostock-Lichtenhagen, einer Unterkunft für Vertragsarbeiter:innen, kommt es im August 1992 zu einer der schlimmsten rechtsextremen Ausschreitungen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Quelle: CC BY-SA 3.0

Die Zivilgesellschaft sieht diesen Entwicklungen oft rat- und tatenlos zu. Rechte Demonstrant:innen besetzen die Marktplätze der Region oder marschieren vor Wohnheimen für Geflüchtete auf. Leichsenring konzentriert sich deshalb neben dem Umbau der Polizei selbst auch auf die Schaffung einer festen Kommunikationsstruktur mit der Zivilgesellschaft. Die Wohnheime und Sammelunterkünfte müssen unbedingt mit den Revierdienststellen verbunden werden. Ehrenamtliche Helfer:innen, aber auch Verwaltungsmitarbeiter:innen und Bürgermeister:innen müssen über
grundsätzliche demokratische Rechte, wie etwa das Versammlungsrecht, aufgeklärt werden.

Stärkung der Zivilgesellschaft

Ein wichtiges Anliegen ist Uta Leichsenring auch, durch die Gründung und
den Aufbau eines Netzwerks von Initiativen und Vereinen die zivilgesellschaftlichen Kräfte gegen den Rechtsextremismus zu stärken und ihm etwas entgegenzusetzen.

In der Polizei setzt sie auf Aus- und Weiterbildung, um für Rassismus zu sensibilisieren und überhaupt ein Problembewusstsein für dieses Phänomen innerhalb der Polizei zu schaffen. Sie entwickelt spezielle polizeiliche Ermittlungsstrukturen, die sich ausschließlich mit der Verfolgung und der Prävention rassistischer, antisemitischer und rechtsextremer Straftaten befassen. Außerdem ist es ihr wichtig, abgeschlossene und sehr hierarchische Strukturen zu brechen, um Korps-Geist und Seilschaften zu beseitigen, damit rassistisches Verhalten im Polizeidienst unterbunden und aufgeklärt werden kann.

Innere Neuausrichtung der Polizei

Besonders beim Übergang von einem Unrechtsstaat wie der DDR in ein demokratisches System muss Demokratie und demokratisches Handeln erst einmal etabliert werden. Eine innere Neuausrichtung hin zu demokratischen Grundsätzen ist deshalb in der Zeit nach der Friedlichen Revolution überall in Ostdeutschland notwendig.

Dies gilt ganz besonders auch für die Polizei in den neuen Bundesländern, die mit einem enormen Imageverlust bei der Bevölkerung zu kämpfen hat. Im Unterschied zur Staatssicherheit, die ja verdeckt operierte, hat die Bevölkerung die Polizei als Repressionsapparat deutlich vor Augen. Deshalb ist die Entscheidung, nach der Friedlichen Revolution Spitzenpositionen in der Polizei mit „Zivilpersonen“ zu besetzen, sehr klug, damit das in Scherben liegende Vertrauen zwischen Exekutive und Bevölkerung
neu belebt und aufgebaut werden kann.

Möglichkeiten zur Vorbildwirkung

Uta Leichsenring ist so eine Zivilperson, sie bringt außerdem ihre früheren Erfahrungen als Bürgerrechtlerin mit dem Unrechtssystem DDR mit. Außerdem ist sie ein „Landeskind“, kein „Wessi“, der oberlehrerhaft erklärt, wie das mit der Demokratie zu laufen habe. Letztlich, das betont Leichsenring später, ist das dringlichste Gebot des demokratischen Neuaufbaus, auf jeder Ebene Möglichkeiten zur Vorbildwirkung zu schaffen. Sie selbst nutzt die Macht ihrer Funktion, die sie als Verantwortung versteht, und geht mit starkem Vorbild voran, indem sie Demokratie lebt und damit demokratische Maßstäbe setzt. Vorbildhaft auch für heutige Polizeiarbeit ist das Verständnis für diejenigen, die den Schutz der Staatsmacht in dieser Zeit am dringendsten brauchen: alle, die rassistischen Übergriffen und Verbrechen ausgesetzt sind.

Aber auch die Entscheidung selbst, in der Situation des Systemwechsels in die Verantwortung als Polizeipräsidentin zu gehen, ist mutig und vorbildhaft. Uta Leichsenring hätte es bequemer haben können, aber sie geht eine schwierige Aufgabe entschlossen an, weil sie es für dringend notwendig hält, dass jemand wie sie die demokratische Aufbauarbeit im Polizeidienst übernimmt.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus der Publikation Vorbilder der Demokratiegeschichte. Handlungen und Einstellungen, die beeindrucken und Orientierung geben können. Diese und weitere Veröffentlichungen von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. können kostenfrei in der Geschäftsstelle bestellt werden und stehen hier zum Download zur Verfügung.

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Dennis R. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.

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