Demokratiegeschichten

Schutz im Land der Täter – Jüdische Kontingentflüchtlinge aus der Sowjetunion

Offiziell galt: Im Sozialismus der Sowjetunion gab es keinen Antisemitismus – die Realität sah aber anders aus. Ab Mitte der 1980er Jahre kam es zwar im Zuge von „Perestroika“ und „Glasnost“ durchaus in den Großstädten der UdSSR zu einem Aufschwung jüdischer Kultur und Religion. Gleichzeitig nahmen aber auch landesweit Rechtsextremismus und Antisemitismus zu. Immer mehr sowjetische Jüdinnen und Juden spielten deshalb trotz schwieriger Ausreisebedingungen ernsthaft mit dem Gedanken auszuwandern.

Ende der 1980er Jahre lockerte die Sowjetunion Michail Gorbatschows dann die Reisebeschränkungen. Dadurch wurde es um ein Vielfaches einfacher, Touristenvisa zu bekommen und beispielweise in die DDR zu reisen. Nicht wenige Jüdinnen und Juden ergriffen diese Chance, reisten aus und kehrten aus Angst vor antisemitischen Übergriffen nicht mehr in die bereits wankende UdSSR zurück.

Konsequenzen aus der Vergangenheit

Unter Michail Gorbatschow öffnet sich die Sowjetunion in zahlreichen Bereichen, auch mit Blick auf bisher sehr restriktive Reisen ins Ausland. Quelle: RIA Novosti archive, image #359290 / Yuryi Abramochkin / CC-BY-SA 3.0

Nachdem die Mauer im November 1989 gefallen war, trafen sich Vertreter:innen von DDR-Regierung, Opposition und verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen am „Runden Tisch“, um über die Zukunft des ostdeutschen Staates zu beraten. Ab Januar 1990 beteiligte sich der Jüdische Kulturverein, in dem auch Säkulare vertreten waren, an diesen Gesprächen. Zu diesem Zeitpunkt gab es in der gesamten DDR nur noch etwa 500 Jüdinnen und Juden, die in Gemeinden registriert waren. Der Kulturverein setzte sich dafür ein, denjenigen Menschen, die sich in der Sowjetunion als Jüdinnen und Juden diskriminiert fühlten, in der DDR Schutz zu bieten und Ihnen den Aufenthalt zu erlauben.

Nach den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 trat die Volkskammer zusammen und tat etwas Revolutionäres: Erstmals bekannte sie sich zur NS-Vergangenheit, zu antisemitischen Politiken nach 1945 und zur bisherigen Haltung gegenüber Israel. Außerdem wurde verkündet: „Wir treten dafür ein, verfolgten Juden in der DDR Asyl zu gewähren.“ Daraufhin reisten 650 sowjetische Jüdinnen und Juden mit Touristenvisa in die DDR.

Lieber nach Deutschland als nach Israel?

Mittlerweile waren die Bundesrepublik, der Zentralrat der Juden in Deutschland, Israel und die Sowjetunion zur Diskussion dazugestoßen. Daraufhin gab auch die DDR-Regierung eine Erklärung ab, die jüdischen Menschen den Aufenthalt erlaubte, aber entsprechend vorsichtig formuliert war, um weder der UdSSR noch Israel auf die Füße zu treten. Bis Oktober wanderten daraufhin weitere 2.000 jüdische Menschen aus der Sowjetunion ein. Kurz darauf war die DDR Geschichte. Das Schicksal der jüdischen Schutzsuchenden lag nur nun in der Hand der Bundesrepublik.

Die weiteren Verhandlungen zwischen dem deutschen Staat, dem Zentralrat, Israel und der Sowjetunion sind heute nicht mehr im Detail rekonstruierbar. Das Ergebnis des Ganzen ist aber bekannt: Die Innenministerkonferenz beschloss, schutzsuchende Jüdinnen und Juden als sogenannte Kontingentflüchtlinge aufzunehmen.

In den 1990er Jahren als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland eingewandert:

Anders als in der Halacha, den jüdischen Rechtsvorschriften festgelegt, galten dabei nicht nur diejenigen als jüdisch, die eine jüdische Mutter hatten oder konvertiert waren. Vielmehr reichte es häufig, einen jüdischen Großelternteil zu haben. Mit Blick auf die eigene NS-Vergangenheit und die weitgefassten Definitionen von jüdisch sein in der nationalsozialistischen Gesetzgebung wollte man nicht den geringsten Verdacht aufkommen lassen, den Kreis möglicher jüdischer Kontingentflüchtlinge so klein wie möglich zu halten. Dies führte dazu, dass sich sowjetische Jüdinnen und Juden teilweise eher dafür entschieden, nach Deutschland, in das „Land der Täter“ auszuwandern. Sie gingen explizit nicht nach Israel, wo sie sich in der Regel einer strengeren Definition von jüdisch sein stellen mussten.

Flucht im Kontingent

Den Status der Kontingentflüchtlinge gab es in Deutschland seit 1980 und er wurde erstmals auf die vietnamesischen Boatpeople angewandt. Rechtlich gesehen berief er sich auf die Genfer Menschenrechtskonvention, nicht auf Artikel 16 des Grundgesetzes. Für die Geflüchteten bot er den Vorteil, dass es kein Asylerfahren mit Anhörung gab, sondern die Behörden automatisch davon ausgingen, dass diese Menschen in ihrer Heimat verfolgt wurden. Außerdem erhielten Kontingentflüchtlinge einen Sprachkurs und durften arbeiten.

Anders als beispielsweise die Spätaussiedler:innen bekamen sie allerdings nicht automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit, konnten sie aber nach festgelegten Fristen beantragen. Ein Nachteil war außerdem, dass die Kontingentflüchtlinge nach dem Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer verteilt wurden. Damit waren sie in ihrer Freizügigkeit eingeschränkt.

Die Rettung der jüdischen Gemeinden

Nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 wurde die Ausreise aus den Nachfolgestaaten in der Regel noch einfacher. 2002 immigrierten erstmals mehr Jüdinnen und Juden nach Deutschland – über 19.000 Menschen – als nach Israel oder in die USA. Die Einwanderung jüdischer Kontingentflüchtlinge ging erst zurück, als 2005 ein neues Zuwanderungsgesetz in Kraft trat.

Dieses erhöhte die Hürden deutlich, um als Kontingentflüchtling anerkannt zu werden. So mussten die Einreisewilligen etwa nachweisen, dass eine jüdische Gemeinde in Deutschland bereit war, sie aufzunehmen. Damit endete die jüdische Immigration großen Stils nach Deutschland so abrupt, wie sie Anfang der 1990er Jahren begonnen hatte.

Insgesamt kamen zwischen 220.000 und 230.000 jüdische Auswanderer:innen aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland. Die Kontingentflüchtlinge retteten mit ihrer Migration nach Deutschland nicht zuletzt die jüdischen Gemeinden hierzulande. So gab es Ende der 1980er Jahre weniger als 30.000 in Gemeinden organisierte Jüdinnen und Juden in Deutschland, heute sind es knapp 100.000. Von ihnen stammen mindestens 90 Prozent aus der ehemaligen Sowjetunion bzw. sind die Nachkommen jüdischer Kontingentflüchtlinge.

Artikel Drucken
Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

0 Kommentare

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert