Demokratiegeschichten

Vom Umgang zweier Tageszeitungen aus Westfalen mit der bundesrepublikanischen Demokratie

Zwei Verlagshäuser. Zwei Tageszeitungen, beide 1946 gegründet. Zwei grundsätzlich unterschiedliche programmatische Konzepte. Beide Zeitungen sind Regionalzeitungen mit einer damaligen Auflage um die 100.000 Exemplare. Die Westfälischen Nachrichten erscheinen im Verlag Aschendorff in Münster und damit in einem traditionell katholisch-konservativen Gebiet. Die Freie Presse hingegen knüpft an die Vorherrschaft der Sozialdemokratie in Bielefeld und Umgebung an.

Wie verhalten sich die beiden Tageszeitungen zur Entwicklung der westdeutschen Demokratie?

Die sozialen Milieus, in denen sie erscheinen, prägen das Rollenverständnis.

Das publizistische Selbstverständnis

Die Westfälischen Nachrichten definierten sich als „christliche Zeitung“, und noch präziser heißt es in einer programmatischen Erklärung in der ersten Ausgabe 1946:

„Dabei sei unmißverständlich gesagt, daß wir unter Christentum kein blasses abgeleitetes Moralsystem oder gar einen bloßen bürgerlichen Geistesschmuck unserer Sonntage verstehen, sondern daß wir es in seinem Vollsinn zu begreifen suchen, gespeist aus der konkreten gottmenschlichen Wirklichkeit des kirchlichen Lebens.“

In ihrer ersten Ausgabe vom 3. April 1946 beschreibt die Freie Presse unter der Überschrift „Unsere Linie“ ausführlich, wofür sie stehen will. Die Kernsätze lauten:

„Unsere Aufklärung und Erziehung sieht drei große Ziele: Demokratie, Sozialismus und Völkerfrieden! Alle, die ehrlich mithelfen wollen, diese Ideale zu verwirklichen, sind uns als Mitarbeiter willkommen. Die Ziele stehen fest, über die kürzesten und sichersten Wege zu ihnen kann es Meinungsverschiedenheiten geben, die (!) sachlich und ehrlich ausgetragen, nur Gutes stiften können. Es ist ein Gebot echter Demokratie, die Lehren eines Einzelnen nicht als unfehlbar zu betrachten, sondern a l l e zum kritischen Denken anzuregen.“

 Die Freie Presse, heißt es zusammengefasst in einem Satz, solle eine

„Tribüne der freien Meinungsäußerung für alle (werden), die mit uns für den demokratischen Sozialismus und den Völkerfrieden wirken wollen.“

Die beiden Zeitungen und die sogenannte Spiegel-Affäre

Wie verhalten sich die sozialdemokratische Parteizeitung und die christlich-konservative Tageszeitung gegenüber einem Ereignis, das die öffentliche Diskussion über Demokratiedefizite in der Bundesrepublik befördert hat: der sogenannten Spiegelaffäre?

Sie begann am 26. Oktober 1962, als die Bundesregierung unter Konrad Adenauer wegen des Verdachtes des Landesverrats in einem Artikel über die NATO-Übung Fallex 62 mehrere „Spiegel“-Redakteure, einen davon in seinem Spanien-Urlaub, und den Herausgeber Rudolf Augstein verhaften und die Redaktionsräume beschlagnahmen und durchsuchen ließ. Sie führte zu einer veritablen, schließlich behobenen Koalitionskrise zwischen CDU/CSU und FDP. Denn die Liberalen sahen sich von Adenauer und Strauß über- und hintergangen. Sie endete mit dem Rücktritt des Verteidigungsministers Franz-Josef Strauß, der das Parlament belogen hatte, am 30. November 1962 und schließlich ohne juristische Folgen für den „Spiegel“.

Die Unterschiede zwischen Westfälischen Nachrichten und Freier Presse in der Kommentierung der Ereignisse könnten nicht größer sein:

Die Westfälischen Nachrichten rücken den möglichen Landesverrat in den Vordergrund, die Freie Presse hingegen die mögliche Verletzung der Rechtsstaatlichkeit.

Die Westfälischen Nachrichten sehen die Verantwortlichkeit des „Spiegel“ als entscheidend für den Eingriff des Staates an, die Freie Presse jedoch sieht darin einen Angriff auf die Pressefreiheit.

Die Westfälischen Nachrichten verteidigen die Maßnahme der konservativ geführten Bundesregierung, die Freie Presse aber attackiert sie heftig.

Die Westfälischen Nachrichten vertreten ein obrigkeitsstaatliches Staatsverständnis, die Freie Presse wirft CDU/CSU dagegen ein ‚ademokratisches‘ Verständnis von Politik vor und sieht sich als Verfechter der „rechtsstaatlichen Demokratie“.

Die Westfälischen Nachrichten sehen ihre autoritäre Vorstellung von Demokratie in Gefahr, weil es viele Menschen gibt, die gegen das staatliche Eingreifen gegen den „Spiegel“ öffentlich demonstrieren, die Freie Presse sieht eine Gefährdung der Demokratie in den möglichen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit.

Die Westfälischen Nachrichten haben Sorge um die Fortexistenz eines CDU/CSU-dominierten Staates, die Freie Presse will dessen Fortexistenz in der damals aktuellen Konstellation verhindern.

Die Westfälischen Nachrichten sind regierungstreu und die Freie Presse ist regierungskritisch. Und dadurch klärt sich, was beiden Zeitungen gemeinsam ist: Es geht um politische Macht. Die Westfälischen Nachrichten wollen die konservative Vorherrschaft in der Bundesrepublik bewahren, und die Freie Presse will der SPD Optionen eröffnen, an der Regierungsmacht teilzuhaben.

Zwei Beispiele für den Gegensatz zwischen den beiden Zeitungen

Das Verlagshaus Aschendorff. Der Aschendorff Verlag druckt neben den Westfälischen Nachrichten noch weitere Regionalzeitungen; Foto: Rüdiger Wölk, CC BY-SA 2.0 DE.

Diese Art des Denkens lässt sich an zwei Beispielen verdeutlichen.

Der Chefredakteur der Westfälischen Nachrichten, Dr. Antonius Eickhoff, schreibt im November 1962 über die Verantwortung der Journalisten Folgendes:

„Der Sachverhalt ist sehr einfach: Jeder, der einer Gemeinschaft zugehörig ist, kann nicht gegen diese Gemeinschaft verstoßen, da er als einzelner ohne diese Gemeinschaft nicht sein kann, anders gesagt, weil das Wohl des einzelnen vom Wohl der Gemeinschaft abhängig ist. Das ist in der Familie so wie auch im Staat.“

Das ist ein aufschlussreicher Vergleich, der ein strukturell autoritäres Verständnis von Familie und Staat offenlegt. Denn, ohne es zu sagen, ist für Eickhoff die eine, Familie, wie der andere, Staat, ein patriarchalisch organisiertes und das heißt bevormundendes System. Er steht damit in einer Tradition autoritären Staatsverständnisses in Deutschland. Dieses war auch Mitgliedern der katholischen Elite nicht fremd gewesen, wenn sie in Anlehnung an die kirchliche Binnenstruktur einen zentralistischen und autoritären Staat als richtig ansahen. In Eickhoffs Ausführungen findet sich einerseits wenigstens ansatzweise erklärt, warum es ihm, dem Katholiken, möglich war, als Hauptschriftleiter im Nationalsozialismus zu arbeiten, und andererseits, welche Vorstellung von der zukünftigen Entwicklung der Bundesrepublik ihn und die Westfälischen Nachrichten prägen, eine zumindest restriktive Auslegung dessen, was Demokratie heißt.

Die Freie Presse im Zwiespalt

In Gestalt ihres Leiters des politischen Ressorts vermittelt die Freie Presse den Zwiespalt, in dem sie sich bewegt.

Ingensand, so heißt er, attestiert der CDU/CSU-Fraktion in der Bundestagsdebatte über die Ereignisse um den Spiegel einerseits, ein „erschreckliches Beispiel“ für obrigkeitsstaatliches Denken zu sein, ein lediglich taktisches Verhältnis zur Demokratie zu haben, und andererseits fordert er in seinem letzten Kommentar die Große Koalition und damit ein Bündnis mit jener Fraktion, die er vorher disqualifiziert hat:

„Die Demokratie braucht mindestens zwei große stabile und zuverlässig demokratische Parteien. Deshalb sorgen wir uns um die Zukunft der CDU. Zugleich aber gibt es die noch vordringlichere Sorge um eine gute Regierung. Wir sehen nicht, wie sie unter den heutigen Umständen zustande gebracht werden könnte. Und darum meinen wir, daß nach kurzer Schonzeit die Zeit doch reif sein sollte für die große Koalition, zu der Bundespräsident Lübke auch jetzt wieder vergeblich riet.“

Die beiden Zeitungen und die Demokratie

Die Westfälischen Nachrichten leisten ihren Beitrag zur Demokratisierung, indem sie vergeblich versuchen, sie publizistisch zu verhindern, und damit in die Minderheitenposition geraten. Sie bindet aber gleichzeitig mit ihrem christlich-autoritären Demokratie- und Staatsverständnis die konservativen Demokratieskeptiker in ihrer Leserschaft an die Bundesrepublik.

Die Freie Presse begreift sich als Verteidigerin der Demokratie und Vertreterin ihrer Erweiterung. Somit befindet sie sich im damaligen medialen Mainstream und trägt nachhaltig zur Demokratisierung der Bundesrepublik bei. Sie ist aber zugleich eine Parteizeitung, die der damaligen Oppositionspartei, der SPD, publizistisch zur Macht oder zumindest zur Teilhabe an ihr verhelfen will. Somit vollzieht sie die taktischen und strategischen Überlegungen der Parteispitze nach.

1967 gibt es die Freie Presse nicht mehr, sie geht durch Fusion auf in der Neuen Westfälischen. Die Westfälischen Nachrichten aber können 2021 ihr 75-Jahre-Jubiläum feiern. Die Westfälischen Nachrichten haben von Beginn an Wert darauf gelegt, frei von einem direkten politischen Einfluss der CDU zu bleiben. Dahingegen steht die Freie Presse in der Tradition der Weimarer SPD-Parteizeitungen. Die Veränderung der Presselandschaft, die Vielfalt, die entsteht und die man auch lesen kann als Ausdruck von Demokratisierung und als Ablehnung eines politischen Erziehungsauftrags bei der Leserschaft, bedeutet für die Freie Presse ihr Ende.

Zum Werk und Autor

Klaus-Dieter Franke war Lehrer für Deutsch und Geschichte.

Der Blogbeitrag beruht auf einer Arbeit, die im Seminar „Forschendes Lernen: Demokratiegeschichte(n) 1900-2000“ im Rahmen des ‚Studium im Alter‘ an der WWU Münster entstand. Die vollständige Arbeit kann unter folgenden Link abgerufen werden:
Zwei Tageszeitungen und ihr Umgang mit der Demokratie: Die Westfälischen Nachrichten (Münster) und die Freie Presse (Bielefeld) in den „dynamischen Jahren“ der Bundesrepublik 1957/58 bis 1965 (uni-muenster.de)

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