Demokratiegeschichten

Artikel 102 – Lob dem Grundgesetz

Ein Satz, wie in Stein gemeißelt: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“ Der Artikel 102 im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist unmissverständlich und auch ungewöhnlich, weil er sich in der Verfassung und nicht im Strafrecht wiederfindet.

Dem lag nicht zuletzt die Lehre aus der Geschichte des die Menschenwürde so fundamental verletzenden Nationalsozialismus zugrunde.

Es waren vor allem die Sozialdemokraten Friedrich Wilhelm Wagner und Carlo Schmid, die sich voller Überzeugung und mit Leidenschaft dafür einsetzten, dass nach heftigen Debatten im Hauptausschuss und dann im Plenum des Parlamentarischen Rats eine Mehrheit dem Artikel 102 zustimmte. Wagner, 1947 heimgekehrt aus dem Exil, führte am 10. Februar 1949 im Hauptausschuss aus:

„Ich muss sagen, man sollte es im Jahr 1949 nicht mehr notwendig haben, diesen Antrag ausführlicher zu begründen. Wenn Sie mit dem Töten der Menschen, mit dem Töten von Mensch zu Mensch ein Ende machen wollen, können sie auch nicht dem Staat das Recht geben, Menschen zu töten. Es wird nicht besser, wenn der Staat einem Menschen das Leben nimmt, als wenn es der Einzelne nimmt. Es ist, was es war: eine Barbarei.“

Rüdiger Soldt, Der letzte Gang des Richard Schuh. Frankfurter Allgemeine 17.02.2019

Carlo Schmid, der als junger Rechtsreferendar an Hinrichtungen hatte teilnehmen müssen, konstatierte:

„Nach all dem, was in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland und anderswo durch deutsche Blutgerichte geschehen war, sollten wir Deutschen Zeugnis dafür ablegen, dass in allen Menschen, auch im Mörder, das Leben heilig zu halten ist, und dass diesem Postulat gegenüber kriminalpolitische Nützlichkeitserwägungen keine Argumente darstellen.“

Norbert Seitz, Als die Todesstrafe abgeschafft wurde. Deutschlandfunk – Hintergrund, 03.04.2019

Verhandlungen in Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat

Es gehört allerdings zum Paradoxon der Debatte im Parlamentarischen Rat, dass Hans-Christoph Seebohm, Mitglied der rechtskonservativen Deutschen Partei, bereits am 18. Januar 1949 im Hauptausschuss initiativ geworden war. Sein Antrag auf Abschaffung der Todesstrafe wurde jedoch mit 6 gegen 9 Stimmen abgelehnt. Er erhoffte sich, mit einem erfolgreichen Antrag eine Stimmung in der Bevölkerung gegen die Rechtsprechung der Besatzungsmächte und die Todesurteile in den Kriegsverbrecherprozessen sowie die Entnazifizierungsverfahren erzeugen zu können. Seebohm vertrat auch noch nach Verabschiedung des Grundgesetzes die Meinung, es sei eine von den Alliierten erzwungene Verfassung.

Es hatte schon im Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee eine kontroverse Debatte gegeben. Die Abschaffung der Todesstrafe wurde abgelehnt. Die Aussicht, dass sich das Stimmenverhältnis im Parlamentarischen Rat grundlegend anders ergeben würde, war gering. Nicht zuletzt die Zunft der (ehemaligen Nazi-) Juristen stimmte für die Beibehaltung der Todesstrafe.

Dieses Denken konnte nicht überraschen, hatten doch zivile Strafgerichte etwa 16.000 Todesurteile gefällt und etwa 12.000 Menschen während der NS-Zeit hinrichten lassen. Rechnet man die vollstreckten Todesurteile der NS-Militärjustiz hinzu, so schätzt der renommierte Rechtshistoriker Ingo Müller die Gesamtzahl auf ca. 30.000 Menschen, die der Blutjustiz der Nazis zum Opfer fielen. Und dennoch konnten sich die Befürworter der Todesstrafe laut Allensbach-Umfrage in jenen Tagen auf eine zustimmende Zweidrittelmehrheit  in der Bevölkerung der westlichen Besatzungszonen berufen.

Insofern kann nicht überraschen, dass die Todesstrafe sich in einzelnen Länderverfassungen wiederfand. Die letzte Vollstreckung eines Todesurteils von deutschen Gerichten vor Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai erfolgte am 18. Februar 1949. Insgesamt gab es in den drei westlichen Besatzungszonen nach Kriegsende bis zur Verabschiedung des Grundgesetzes 34 Todesurteile und 15 Vollstreckungen.

In West-Berlin, das aufgrund des besonderen Vier-Mächte-Status nur eingeschränkt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gehörte, erfolgte noch am 11. Mai 1949 eine Hinrichtung. Endgültig abgeschafft wurde die Todesstrafe erst 1951.

Todesstrafe in der DDR

In der DDR wurde die Todesstrafe erst am 17. Juli 1987 abgeschafft. Ob ein Begründungszusammenhang mit dem bevorstehenden Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik gegeben war, ist in der historischen Forschung strittig. Bis dahin waren 164 von 221 (ungesicherte Datenlage – vgl. Todesstrafe in der DDR in MDR vom 05.02.2009; vgl Hans Michael Kloth, u.g.) wegen NS-Verbrechen oder krimineller und politischer Delikte zum Tode Verurteilte hingerichtet worden. Die letzte Hinrichtung hatte es in der DDR am 26. Juni 1981 gegeben. Der Stasi-Offizier Werner Teske war wegen angeblicher Spionage zum Tode verurteilt worden. Erich Mielke, Minister für Staatssicherheit, hatte seine zynische und jeglichem Rechtsstaatdenken fremde Auffassung zur Todesstrafe im internen Kreis geäußert:

„Das ganze Geschwafel von wegen nicht Hinrichtung und nicht Todesurteil – alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil.“

Hans Michael Kloth, Todesstrafe in der DDR. „Alles Käse, Genossen.“ SPIEGEL ONLINE 13.07.2007

Zur Geschichte der DDR gehören andererseits die friedliche Revolution und der Verfassungsentwurf der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung der DDR“ des Runden Tisches vom April 1990. Unter Punkt (5) in Artikel 12 heißt es:

„Die Todesstrafe und die lebenslange Freiheitsstrafe sind abgeschafft.“

BasisDruck Verlagsgesellschaft mbH, Staatsverlag der DDR, Berlin 1990

Befürworter der Todesstrafe

Befürworter der Todesstrafe ließen mit der Verabschiedung des Grundgesetzes nicht von dem Versuch ab, das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen. Bis 1958 gab es im Deutschen Bundestag sieben Versuche, den Artikel 102 aufheben zu wollen. Zu den bekanntesten Befürwortern einer Wiedereinführung der Todesstrafe gehörten Franz-Josef Strauß und Richard Jaeger („Kopfab-Jaeger“) und 1964 sogar Konrad Adenauer.

Auch die Tatsache, dass erst mit der Landtagswahl am 28. Oktober 2018 in Hessen durch eine Volksabstimmung die Sätze zur Todesstrafe aus den Artikeln 21 und 109 gestrichen wurde und in Artikel 21 hinzugefügt wurde: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“ sollte nachdenklich stimmen – über Zu- und Vertrauen in die eigene Überzeugungskraft von Politik und die Vernunft des Souveräns.

Der CDU-Politiker und Leiter der Enquetekommission zur Verfassungsreform in Hessen Jürgen Banzer beantwortete die Frage, warum es so lange gedauert habe, mit dem vielsagenden Hinweis:

„Viele Politiker in Hessen haben lange Zeit doch sehr viel Angst davor gehabt, dass die Wähler vielleicht ausgerechnet dann abstimmen müssen, wenn es kurz vorher ein Kapitalverbrechen gab.“

Oliver Piper, Schwarzer Tag für Hessens Henker. DW 13.10.2018

Todesstrafe in anderen Ländern

Wie geprägt das Grundgesetz in dieser Thematik durch die historische Erfahrung mit dem Nationalsozialismus war, aber in der Rechtskultur sowie politisch-normativ zugleich traditionsverhaftet (man möge an die nie in Kraft getretene „Paulskircherverfassung“ denken) wie auch vorausschauend, trotz heftigen Widerspruchs und ernsthafter Revisionsversuche, kann man daran erkennen und ermessen, dass heute 106 Staaten (mehr als die Hälfte der Staaten weltweit) die Todesstrafe abgeschafft haben und weitere 36 sie nicht mehr vollstrecken. 121 Länder stimmten im Dezember 2018 auf einer UN-Plenartagung einem Moratorium für die Todesstrafe (Hinrichtungsstop) zu.

Es ist diesem Grundgesetz geschuldet, wenn die Menschenrechtsbeauftragte Bärbel Kofler der Bundesregierung im Auswärtigen Amt sich stets (!) und eindeutig zu Wort meldet, wenn es um die Todesstrafe geht. So vor kurzem am 25. April 2019, nachdem in Saudi-Arabien 37 Menschen hingerichtet worden waren:

„Meine Haltung und die der Bundesregierung zur Todesstrafe ist klar und völlig eindeutig: Sie ist eine grausame und unmenschliche Form der Bestrafung, die wir immer und unter allen Umständen ablehnen.“

Pressemitteilung Auswärtiges Amt am 25.04.2019

B. F. lebt in Berlin und ist Mitglied bei Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.

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