Demokratiegeschichten

100 Jahre politischer Mord in Deutschland – Umkämpfte Erinnerung


„Gesinnungsgenossen!
Der Väter frommer Sitte folgend, hat das Zentrum von Württemberg und Baden beschlossen, an der Opferstelle, wo unser Erzberger als politischer Märtyrer sein Blut für unsere Ideale vergossen hat, eine schlichte Sühnekapelle zu erbauen und an der Tanne, unter deren Ästen er sein Leben aushauchte, ein Marter zu errichten. Alljährlich am 26. August soll ein Sühneopfer dort gefeiert werden.“


Dieser Aufruf war am 2. September 1921, eine Woche nach dem Mord, im „Badischen Beobachter“ zu lesen, dem Hauptorgan der badischen Zentrumsfraktion aus Karlsruhe. Sühnekapelle und Marter, ein religiöses Kleindenkmal, das an der Unglücksstelle errichtet wurde, waren in den ersten Jahren nach Erzbergers Ermordung „Wallfahrtsstätten“ für seine Anhänger.

Außerhalb von Erzbergers Heimat taten sich nicht nur die politischen Gegner mit der Erinnerung an den ehemaligen Reichsfinanzminister schwer. So diskutierten die Berliner Lokalpolitiker in den städtischen Gremien seit 1922 heftig darüber, ob Straßen und Plätze nach dem Zentrumspolitiker benannt werden sollten – oder auch nach dem im Juni 1922 ermordeten Reichsaußenminister Walther Rathenau (DDP). Der sozialdemokratische „Vorwärts“ berichtete von der entscheidenden Abstimmung am 8. März 1923:

„Gestern sollten die Stadtverordneten über die Straßen- und Platzumnennungen beschließen, um die in der vorhergehenden Sitzung so hitzig gestritten worden war. Weil die Kommunisten mit ihrem Antrag auf Benennung von Straßen nach Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg allein blieben, stimmten sie nachher gegen Erzberger und Rathenau. Die Forderung, bestimmte Straßen nach Erzberger und Rathenau zu benennen, wurde von allen Bürgerlichen abgelehnt, sogar vom Zentrum. Aus den umständlichen Abstimmungen kam schließlich nur heraus, daß eine etwa mal neu zu benennende Straße nach Rathenau benannt werden soll. Für Erzberger war selbst mit dieser auf die Zukunft vertröstenden Einschränkung keine Mehrheit zusammenzubringen. “

Träger der Erinnerungskultur

Vor allem das Reichsbanner, eine 1924 zum Schutz der Demokratie gegründete Vereinigung, organisierte Gedenkveranstaltungen zum Erzberger-Mord. Der sozialdemokratische „Vorwärts“ berichtete am 27. August 1927:

„Berlins Republikaner vereinten sich gestern, um dem Andenken eines Mannes zu huldigen, der als Republikaner und ehrlicher Verteidiger des neuen Staats den Opfertod starb. Allen Bitternissen der Witterung zum Trotz fanden sich auf dem Wittenbergplatz zahlreiche Anhänger der Republik ein, um zu bekunden, daß sie das Andenken des Toten hochhalten. […] Erzberger war, so führte der Redner des Zentrums aus, ein Patriot von seltenem Opfermut, das hat er jederzeit bewiesen. Deshalb nehmen wir sein Erbe auf und bekennen uns zur Republik.“

Ein Jahr später errichtete das „Reichsbanner“ in Osnabrück ein Denkmal für Erzberger, Rathenau und den 1925 verstorbenen Reichspräsidenten Friedrich Ebert. Ebert war an einer Blinddarmentzündung gestorben, die er wegen eines Verleumdungsprozesses verschleppt hatte. Das im Bauhaus-Stil gestaltete Denkmal wurde 1928 eingeweiht.


„Da der Magistrat der Stadt Osnabrück es merkwürdigerweise abgelehnt hat, das Denkmal in seinen Schutz zu nehmen, übernahm das Osnabrücker Reichsbanner diesen Schutz. Zur Feier hatte sich eine vieltausendköpfige Menschenmenge eingefunden, die den Platz des Denkmals umsäumte und begeistert in das Hoch auf die deutsche Republik einstimmte. Es war beabsichtigt, die Rede des Genossen Vogel durch den westdeutschen Rundfunk übertragen zu lassen. Dieser hatte aber den Entwurf der Rede in einer derartig vormärzlichen Weise zensiert, daß der Redner […] auf eine Übertragung durch den Rundfunk verzichtete.“

Vom Umgang mit den Denkmälern

Der Schutz von Denkmalen für Demokraten war vor allem deshalb unverzichtbar, weil sie immer wieder beschmiert und geschändet wurden. Das Osnabrücker Denkmal etwa wurde schon vor seiner Fertigstellung beschädigt. Und nach nicht einmal fünf Jahren, am 12. Mai 1933, beschloss die Stadt, das ungeliebte Denkmal abzureißen. Es dauerte 50 Jahre – bis 1983 – bis es an historischer Stelle neu errichtet werden konnte.


Ebert-Erzberger-Rathenau-Mahnmal in Osnabrück, Foto: Roland Mattern

An Erzbergers Geburtshaus im badischen Buttenhausen wurde 1927 eine Gedenkplakette angebracht. Auch sie wurde 1933 von den Nationalsozialisten wieder abmontiert. Am Tatort in Bad Griesbach wurde schon 1929 der verwahrloste Zustand des Erinnerungsmals bemängelt. 1933 sägten Unbekannte das Erinnerungskreuz ab, die Verantwortlichen wurden nicht ermittelt. Alle Spuren Erzbergers schienen getilgt, wie aus den amtlichen Aufzeichnungen der Gemeinde hervorgeht:

„Das Marterl ist verbrannt, der Platz eingeebnet und mit Gras bewachsen. Die Erinnerungstafel in der Kapelle ist entfernt und zusammengeschlagen, und keine Spur erinnert mehr an Erzberger.“

Die „Badischen Neuesten Nachrichten“ straften diese Einschätzung 16 Jahre später, am 24. August 1946, mit triumphierendem Unterton Lügen:

„Schon Bismarck hat gesagt, man solle nie in der Politik niemals sagen. An die Stelle seines Sterbens und des verbrannten Marterls wird Erzberger in seinem 25. Todesjahr ein eues Marterl gesetzt, das der Offenburger Bildhauer Kramer dem geschändeten Male nachgestaltet.“

Am gleichen Ort wurde später ein Gedenkstein installiert.


Gedenkstein für Matthias Erzberger an der B28 bei Bad Griesbach im Schwarzwald, Foto: gemeinfrei.

25 Jahre später, 1971, folgte eine neue Plakette am Geburtshaus Erzbergers. Seit 2004 befindet sich dort eine Erinnerungsstätte.

Tafel an der Matthias-Erzberger-Gedekstätte, Foto: gemeinfrei.

In Berlin gibt es bis heute keine Straße, die an Matthias Erzberger erinnert. Immerhin hat der Deutsche Bundestag im Mai dieses Jahres vor dem seit März 2017 nach dem Politiker benannten Erzberger-Haus der Bundestagsverwaltung Unter den Linden im Mai 2021 auch eine Büste des Politikers aufstellen lassen.

https://www.hdgbw.de/ausstellungen/erzberger/

Deutschlandfunk Kultur sendet in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam) ab dem 25. August 2021 jeweils mittwochs gegen 19:25 Uhr die Reihe „100 Jahre politischer Mord in Deutschland“.  

Folge 4 zum Nachhören.

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Über uns 
Historikerin, Autorin, Kuratorin Mitarbeiterin im Projekt "Gewalt gegen Weimar" am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

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