Demokratiegeschichten

100 Jahre politischer Mord in Deutschland: Antisemitische Hetze gegen Außenminister Walther Rathenau

„Unserer unmaßgeblichen Meinung nach beschimpft ein Walther Rathenau durch die Tatsache, daß er als Gründer der Volksauswucherungsinstitute (der Kriegsgesellschaften), als Mann, der in Deutschlands Niederlage den ‚Sinn der Weltgeschichte‘ sah, als Mann, der mit kriminellen Verbrechern (Radek usw.) verhandelt, die Republik mehr als jeder andere im Deutschen Reich. Jeder Photograph, der Abbildungen Rathenaus bringt, fällt unserer untertänigsten Anschauung nach, unter den neuen § 111a, denn die Wiedergabe dieses Gesichts ist eine ständige Provozierung zu Gewalttätigkeiten.“

Das schreibt der „Völkische Beobachter“ Anfang April 1922, das Parteiblatt der NSDAP. Der Paragraf 111a soll Aufrufe zu strafbaren Handlungen gegen die Republik als Anstiftung zur Gewalt behandeln – eine Reaktion auf die Propaganda in der rechten Presse, die das politische Klima vergiftet und zu Gewalt gegen Andersdenkende aufstachelt. Der „Völkische Beobachter“ dreht den Spieß um und skandalisiert, dass mit Walther Rathenau ein Jude deutscher Außenminister ist.

„Wir meinen also […], der Schutz dieser Republik könnte nicht besser gesichert sein, als wenn Walther Rathenau ins Zuchthaus käme […] [als] wenn die Leiter der ‚verfassungsmäßigen Staatsform‘, das ganze Gesindel, das Deutschland zweimal täglich in seinen Zeitungen besudelt, mit einem festen Strick Bekanntschaft machen ließe.“

Der antisemitische Agitator Alfred Roth

Das nationalsozialistische Blatt steht mit seinem Ruf nach Lynchjustiz nicht allein. So hetzt auch Alfred Roth, führender Kopf des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes und des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, gegen die Regierung des Kanzlers Joseph Wirth von der katholischen Zentrumspartei:

„Es wird die Zeit kommen, wo die Namen Wirth und Rathenau dem deutschen Volke ebenso verhaßt sein werden, wie es heute schon der Name Erzberger ist und die Enkel unseres Geschlechtes werden solche Namen verfluchen. Das ist gewiß.“

Das schreibt Roth am 10. Februar 1922, kurz nachdem Walther Rathenau deutscher Außenminister geworden ist. Roth ist einer der wüstesten antisemitischen Hassprediger in Deutschland, der erfolgreiche Industrielle und Politiker Rathenau steht seit langem im Zentrum seiner Kampagnen. Für ihn ist Rathenau der „Kandidat des Auslands“.

Die Konferenz von Genua

Im April 1922 vertritt Außenminister Rathenau Deutschland auf der Konferenz in Genua, der ersten großen Wirtschafts- und Finanzkonferenz nach dem Weltkrieg.

Originaltitel: „Der Versailler Vertrag. Der deutsche Außenminister Walter Rathenau auf der Internationalen Wirtschaftskonferenz in Genua vom 10. Apr. – 19. Mai 1922“, Quelle: Bundesarchiv BildY 1-545-649-72, Foto: o. Angabe.

Um Deutschlands internationale Isolierung aufzubrechen, landet die deutsche Delegation einen überraschenden Coup und schließt mit der Sowjetunion den Vertrag von Rapallo. Rathenau erklärt in einem Brief an den ehemaligen Reichsinnenminister Erich Koch:

„An sich ist der Rapallo-Vertrag nichts weiter als ein reiner Friedensschluss auf gesunder und aufrichtiger Basis der Völkerverständigung; es ist derjenige Friedensvertrag, wie er unter menschlich denkenden Nationen durchweg hätte geschlossen werden müssen. Politische oder gar militärische Auswirkungen hat er nicht, es handelt sich lediglich um den Ausgangspunkt gesunder wirtschaftlicher und politisch nachbarlicher Beziehungen. […] Das Aufschäumen Frankreichs war die unangenehme Seite der Wirkung, aber sie brachte nur zum Ausdruck, was längst unter der Oberfläche gelegen hatte […]. Den übrigen Nationen gegenüber aber ist die Stellung Deutschlands so merklich gehoben, dass eine aktive Politik, wie wir sie alle erstreben, ihre erste Grundlage findet.“

Der Vertrag von Rapallo aus der Perspektive der Völkischen

Der Deutschvölkische Alfred Roth hingegen wettert auf einer Versammlung, dass man „diese[n] Sowjetjuden“ grundsätzlich nicht trauen und deshalb auch keine Verträge mit der Sowjetunion schließen dürfe.

„Nun Herr Rathenau. Ich habe ihm vorgeworfen und ich bleibe dabei, obwohl er mir jeden Augenblick den Staatsanwalt auf den Hals hetzen kann, er treibt eine Politik der bewußten Unwahrheit.“

Roth, dessen Vortrag vollständig auf der Titelseite der „Coburger Zeitung“ vom 27. Mai 1922 abgedruckt wird, mokiert sich darüber, dass der Außenminister ihn nicht juristisch belange:

„Gewiß, Rathenau hat erklärt, er lache über mich, ich könne mir seinetwegen den Mund fußlig reden. Er weiß wohl, daß die Zeit noch nicht reif ist, daß es noch immer deutsche Richter gibt.“

Die Machtlosigkeit der Diffamierten

Ein Lied, das bei den Freikorps kursiert, bezeugt, wie weit die Verrohung der Sitten in den frühen Zwanzigerjahren geht. Es beginnt mit dem Reichskanzler und endet mit dem Außenminister:


„Lasst uns froh und munter sein,
Schlagt dem Wirth den Schädel ein.
Lustig, lustig trallerallala,
Bald ist Wilhelm [der 1918 gestürzte Kaiser Wilhelm II., EK] wieder da!

Auch Rathenau, der Walther,
Erreicht kein hohes Alter,
Knallt ab den Walther Rathenau
Die gottverfluchte Judensau!“

Für Rathenau wie für andere Juden ist es schwer, sich vor deutschen Gerichten gegen antisemitische Beschimpfungen zu wehren. Häufig stehen die Richter eher auf Seiten der antisemitischen Hetzer. Die Beschimpfungen Roths gegen Rathenau haben dennoch ein juristisches Nachspiel: Am 31. Mai 1923 wird Alfred Roth vom Staatsgerichtshof verurteilt. Zwar wird die Anklage wegen „Aufstachelung des Klassenhasses“ und die Forderung des Oberreichsanwalts, der auf acht Monate Gefängnis plädierte, abgewiesen. Aber Roth wird wegen „öffentlicher Beleidigung“ Rathenaus zu 500.000 Mark Geldstrafe oder drei Monaten Gefängnis verurteilt.

Der ehemalige Außenminister ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot, ermordet knapp ein Jahr zuvor. Alfred Roth zieht bald in den Reichstag ein, als Abgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei.

Deutschlandfunk Kultur sendet in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam) ab dem 25. August 2021 jeweils mittwochs gegen 19:25 Uhr die Reihe 100 Jahre politischer Mord in Deutschland.  

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Über uns 
Historikerin, Autorin, Kuratorin Mitarbeiterin im Projekt "Gewalt gegen Weimar" am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

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