Demokratiegeschichten

Kommunalpolitik in Lüdinghausen – Auf dem Weg in die Weimarer Demokratie

Aus einem Leserbrief in der Lüdinghauser Zeitung vom 26. Februar 1919, vier Tage vor der ersten Kommunalwahl nach Einführung des allgemeinen und freien Wahlrechts der Weimarer Republik:

„Wir sind weit entfernt davon, die Kandidaten dieser Liste persönlich anzugreifen, können es uns aber nicht versagen, sachlich hierzu Stellung zu nehmen. An der Spitze dieser Liste, gleichsam als Führerin der Opposition, befindet sich eine verhältnismäßig jugendliche Dame, deren ehrenwerten Charakter wir nicht im geringsten antasten wollen, welche aber unseres Wissens sich bisher mit städtischen Angelegenheiten nicht befaßt[!] hat und der wir deshalb in dieser hochwichtigen Sache … unser volles Vertrauen nicht schenken können.“

Stadtarchiv Lüdinghausen (StAL), Lüdinghauser Zeitung vom 26.2.1919, Zur Stadtverordnetenwahl.

Wie war es zu dieser Ungeheuerlichkeit gekommen, dass eine „verhältnismäßig jugendliche Dame“ an der Spitze einer Wahlliste stand und sich um ein Mandat in einem Gremium bewarb, welches doch bislang ausschließlich mit Honoratioren der Stadt besetzt war?

Kommunalpolitik in der Kaiserzeit

Gesetzliche Grundlage für die kommunalpolitische Arbeit in Lüdinghausen war die preußische Städteordnung vom 19. März 1856. Diese galt im Wesentlichen auch über 1918 hinaus bis 1935. Eine von den Bürgern gewählte Stadtverordnetenversammlung wählte Bürgermeister und Magistrat der Stadt – hier ein Beigeordneter und zwei Schöffen –, welche die tägliche Arbeit der Kommune zu bewerkstelligen hatten und dabei neben den landesgesetzlichen Bestimmungen auch die Beschlüsse der Stadtverordnetenversammlung berücksichtigen mussten. Die Provinzialregierung in Münster kontrollierte die Arbeit. Insofern hatte dieses Konstrukt durchaus gewisse Parallelen zur aktuellen politischen und gesetzlichen Aufstellung der Kommunalpolitik in NRW. Der entscheidende Unterschied bestand in dem Wahlrecht, aus welchem die Stadtverordnetenversammlung hervorging.

Zwar gab es für die Wahlen zum Reichstag schon nach der Reichsgründung 1871 das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht, für den preußischen Landtag als auch für die Gemeinden in Preußen galt bis 1918 jedoch das Dreiklassenwahlrecht für Männer. Entsprechend ihren Steuerzahlungen wurden die Männer der Stadt in drei Abteilungen aufgeteilt. In Abteilung I befanden sich die Personen mit den höchsten Steueraufkommen, welches in der Summe 1/3 der gesamten Steuereinnahmen der Stadt ausmachte, in Abteilung II die Personen, die aufsummiert das nächste Drittel an Steuern zahlte und schließlich in Abteilung III die restlichen Männer über 24 Jahre, die überhaupt Steuern zahlten und keine Armenhilfe bekamen. Frauen durften nicht wählen und konnten natürlich auch nicht gewählt werden.  Am Beispiel der Kommunalwahl 1912, der letzten vor dem Krieg soll das Wahlgeschehen in der Kaiserzeit dargestellt werden.

Die Kommunalwahl 1912 – Die Wähler

Bei etwa 4.000 Einwohnern gab es nur 552 Wahlberechtigte. Der Abteilung I wurden siebzehn Personen zugeordnet, 80 befanden sich in Abteilung II und 455 Wahlberechtigte in Abteilung III. Lediglich vier Kandidaten wurden für die Stadtverordnetenversammlung, die zu dieser Zeit aus zwölf Personen bestand, neu oder wieder gewählt. Die Wahl erfolgte auf sechs Jahre und stellte eine Ergänzung des Gremiums dar, acht blieben ja im Amt. Zwei Jahre später erfolgte dann die nächste Ergänzungswahl für wiederum vier Kandidaten, entsprechend weitere zwei Jahre später, so dass nach sechs Jahren alle Stadtverordneten neu gewählt oder im Amt bestätigt waren.

Am Wahltag erschienen die Wähler im Kapitelsaal der Burg Lüdinghausen in fest vorgegebenen Zeitfenstern getrennt nach Abteilungen. Es gab keine offiziellen Kandidaten, jeder konnte jeden wählen und informelle Absprachen mussten im Vorfeld der Wahl erfolgen. Einer nach dem anderen trat vor die Wahlkommission, nannte laut und deutlich seinen Namen und den des Kandidaten, den er wählen wollte.


Seite des Wahlprotokolls mit Wahlberechtigten, deren Steuerlast und ihren Wahlentscheidungen. Erkennbar ist aber auch die geringe Wahlbeteiligung in Abt. III.
StAL, Bestand 10-27, Ausschnitt Wählerliste 1912, III. Abteilung. Fotografie mit freundlicher Genehmigung des StAL.

Der Protokollführer hielt akribisch fest, wer was gewählt hatte und so konnte das Ergebnis relativ schnell festgestellt werden.

StAL, Bestand 10-27, Wahlergebnisse aus dem Wahlprotokoll vom 27.11.1912, Prozentangaben: eigene Berechnungen.

Die Kommunalwahl 1912 – Die Gewählten

Nur der Stadtverordnete Richter war neu im Gremium, die drei anderen waren schon vorher Stadtverordnete. Was wir heute als Wahlkampf, also einen Wettstreit zwischen verschiedenen Parteien und politischen Überzeugungen bezeichnen würden, gab es nicht. Die technischen Möglichkeiten für einen effektiven Wahlkampf waren zu dieser Zeit allerdings auch äußerst beschränkt. Nur gelegentlich wurde die Wahl in redaktionellen Beiträgen oder Anzeigen in der Lokalpresse, der Lüdinghauser Zeitung, thematisiert. Bedingt durch die unzulänglichen Kommunikationsmöglichkeiten waren aber die zahlenmäßig stärkeren Wählergruppen benachteiligt und so kam es zu höchst unterschiedlichen Wahlbeteiligungen in den drei Abteilungen, von 65% in Abteilung I bis zu 27% in Abteilung III.

Im Übrigen war die politische Gesinnung der Bewerber nur von untergeordneter Bedeutung. Selbst die in Lüdinghausen bei Reichstagswahlen dominierende Zentrumspartei spielte, wie auch alle anderen Parteien, bei Kommunalwahlen überhaupt keine Rolle. Tatsächlich war keine der Parteien der Kaiserzeit vor Ort mit einem eigenen Ortsverband präsent.

Das Wahlverfahren zeigt klar, was diese Wahl war: preußisch korrekt, aber auf keinen Fall demokratisch, ein wenig frei, aber weder allgemein, noch gleich oder geheim.

Kommunalwahl in der Weimarer Republik

Das sollte sich aber in Folge des revolutionären Wandels in Deutschland bei den Kommunalwahlen 1919 entscheidend ändern. Schon wenige Tage nach Ausrufung der Republik im November 1918 wurde auf Beschluss des Rats der Volksbeauftragten das Verhältniswahlrecht mit allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl eingeführt. Das neue Wahlrecht galt nicht nur bei den Reichstagswahlen im Januar 1919, sondern auch bei den wenig später, am 2. März 1919 stattfindenden Kommunalwahlen. Mit dem neuen Wahlrecht wurde das Wahlalter heruntergesetzt, statt der zuvor durchgeführten reinen Persönlichkeitswahl mussten nun Listen gebildet werden und vor allen Dingen, die Frauen erhielten das aktive und passive Wahlrecht. Durch diese Maßnahmen erhöhte sich die Zahl der Wahlberechtigten von etwas über 500 im Jahr 1912 auf nun knapp 2.000.

Konkret hieß das für Lüdinghausen, dass für die Wahl der auf 18 Personen vergrößerten Stadtverordnetenversammlung vier Listen gebildet wurden. Der Wahlvorschlag I bestand ausschließlich aus Bergleuten, war also, ohne dass sie so bezeichnet wurde, sozialdemokratisch ausgerichtet. Die SPD war zwar wenige Wochen zuvor in Lüdinghausen gegründet worden, wurde aber in der Listenbezeichnung nicht erwähnt, vielmehr wurde die Liste, wie auch die anderen drei, nach dem Spitzenkandidaten benannt.

Der Wahlvorschlag II umfasste neben einer Reihe von Ingenieuren und Arbeitern auch eine Frau „ohne Beruf“ auf dem eher aussichtslosen Listenplatz 8. Die Zentrumspartei befand sich noch in der Gründungsphase und war bestrebt einen Vorschlag anzubieten, der alle gesellschaftlichen Gruppen erfasste. Dieses schien auch mit viel Überzeugungsarbeit gelungen zu sein bis am letzten Tag der Frist der Wahlvorschlag IV mit einer Frau, Aurelie Maes, an der Spitze eingereicht wurde. Dieses geschah am 22. Februar 1919, also eine Woche vor der Wahl. Es dauerte aber bis zum 25. Februar, bis die eingereichten Wahlvorschläge in der LZ veröffentlicht und somit in der Stadt allgemein bekannt wurden.

Wahlkampf und Überraschung im Wahlergebnis

In den verbleibenden vier Tagen entstand dann allerdings ein Wahlkampf, der an Heftigkeit alles bislang Dagewesene überbot. Insbesondere, dass sich eine Frau auf einem solch exponiertem Listenplatz zur Wahl stellte, war Anlass für verschiedene Leserbriefe. Insbesondere aus dem Lager von Vorschlag III, in denen man die Eignung der Kreisfürsorgerin und Kandidatin Maes grundsätzlich in Frage stellte und ihre Aufstellung als ein taktisches Manöver brandmarkte, um die Stimmen der „unerfahrenen Frauen“ in der Stadt zu bekommen.

Um so erstaunlicher ist das Wahlergebnis der ersten freien und gleichen Kommunalwahl in Lüdinghausen. Zwar erhielt der Vorschlag III mit 1.037 Stimmen eine deutliche Mehrheit von zwölf Stimmen in der Gemeindevertretung, aber der Wahlvorschlag Maes kam auf beachtliche 388 Stimmen und damit vier Abgeordnete. Die beiden anderen Vorschläge konnten jeweils einen Vertreter entsenden.

Bedenkt man, dass die Vorschläge III und IV mit insgesamt 16 von 18 Stadtverordneten beide dem katholischen Zentrumsmilieu entstammen, so bestätigte sich bei dieser Wahl ähnlich wie bei den überregionalen Wahlen die erdrückende Mehrheit des Zentrums, aber auch dessen Uneinigkeit in Lüdinghausen. Ein ähnliches Bild zeigte auch die nächste Kommunalwahl fünf Jahre später.

Zum Text und Autor

Heribert Schwarzenberg, Geburtsjahr 1951, ist pensionierter Lehrer (ehemals Kant Gymnasium Münster-Hiltrup, Fächer: Mathematik, Wirtschaftswissenschaft, Geographie, Informatik).

Kommunalpolitik in Lüdinghausen wird in einem Aufsatz ausführlicher behandelt, der im Forschungsseminar „Demokratiegeschichten des 20. Jahrhunderts“ von Frau Dr. Jüttemann, einer Veranstaltung im Rahmen des „Studiums im Alter“, in der Zeit von Wintersemester 2019/20 bis Sommersemester 2021, entstand. Die Erstveröffentlichung erfolgte auf dem Publikationsserver MIAMI der Universität Münster: Schwarzenberg | Das alte Morsche ist zusammengebrochen … Es lebe die deutsche Republik | https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:hbz:6-25019450097

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