Demokratiegeschichten

100 Jahre politischer Mord in Deutschland: Die Aufarbeitung des Ersten Weltkrieges

„Die Deutsche Volkspartei hat heute durch eine gewaltige Massenkundgebung in der Philharmonie eine Offensive gegen die Lüge von der deutschen Kriegsschuld eröffnet. […]

Alle drei Redner betonten, daß es sich hier nicht um eine Parteiangelegenheit handle, sondern um eine Ehrensache des ganzen deutschen Volkes, da auf der Lüge von der deutschen Kriegsschuld der Versailler Vertrag aufgebaut ist. […]

Die gewaltige Versammlung belohnte die Ausführungen mit wahrhaft tosendem Beifall. Feierlicher Orgelklang leitete die Kundgebung ein und schloß sie auch. Die Deutsche Volkspartei wird diese Kundgebung im ganzen Reich wiederholen.“

Das berichtet der Bonner „General-Anzeiger“ am 9. Januar 1922. Insbesondere Frankreich, wo weite Landstriche durch den Stellungskrieg verwüstet sind, bestand nach Kriegsende darauf, die Kriegsschuld Deutschlands und seiner Verbündeten im Versailler Vertrag festzuhalten.

Original-Bildunterschrift: „ADN-ZB/Archivbild: I. Weltkrieg 1914-1918 Stellungskrieg an der Westfront Zerschossener Schützengraben an der Somme 1916.“, Quelle: Bundesarchiv Bild 183-H26455, Foto: o. Angabe
Original-Bildunterschrift: „Scherl: Weltkrieg. Granatfeld zwischen Douaumont und Thiaumont. 17111-30 [Herausgabenummer] Zentralbild: I. Weltkrieg 1914-18 Die Schlacht bei Verdun in Frankreich vom 21.2. bis Ende Juni 1916. U.B.z: das Trichterfeld zwischen den Forts Douaumont und Thiaumont. 17111-30 [Herausgabenummer]“, Quelle: Bundesarchiv Bild 183-R29835, Foto: o. Angabe

Der Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrages

„Die alliierten und assoziierten Regierungen erklären, und Deutschland erkennt an, daß Deutschland und seine Verbündeten als Urheber für alle Verluste und Schäden verantwortlich sind, die die alliierten und assoziierten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben.“

So lautet der Artikel 231 des Versailler Vertrages. Die Kriegsschuld ist dann Basis für die Reparationsforderungen, die die Alliierten an das Deutsche Reich stellen. Der Artikel 231 wird in Deutschland auch als moralische Verurteilung verstanden – und deswegen empört zurückgewiesen. Nur unter dem großen Druck der Alliierten stimmt der Reichstag im Juni 1919 der Unterzeichnung des Versailler Vertrages zu. Ansonsten hätte die Besetzung Deutschlands durch die Siegermächte gedroht. Das ist allen Parteien im Reichstag klar.

Die „Kriegsschuldlüge“ als Instrument der Rechten

Die rechten Parteien nutzen dennoch die sogenannte „Kriegsschuldlüge“, um Demokraten als „Vaterlandsverräter“ zu beschimpfen und die kaiserliche Regierung von jedem Versagen freizusprechen. Auch die SPD spricht vom „Friedensdiktat“ von Versailles, sieht aber auch Verantwortung bei „dem ehemaligen Kaiser Wilhelm und seinem System“, wie der „Vorwärts“ am 17. Juni 1922 schreibt:

„Diese Männer sind schuldig, durch gröbste Fahrlässigkeit diesen Zusammenstoß herbeigeführt zu haben, der […] zwei Millionen Deutsche das Leben kostete, und diese Schuld wäscht auch keine mangelnde ‚Absicht‘ von ihnen ab. Eine Erörterung der Kriegsschuldfrage, die dies verschweigt, ist nichts als Heuchelei.“

Das Bülow-Referat im Auswärtigen Amt

Doch seit Kriegsende haben sich auch die SPD und die demokratischen Parteien gescheut, offensiv die Frage der Mitschuld der kaiserlichen Regierung am Kriegsausbruch 1914 zu thematisieren. Stattdessen ist im Auswärtigen Amt ein eigenes Referat eingerichtet worden, das die Aufgabe hat, die deutsche Vorkriegspolitik in einem möglichst günstigen Licht darzustellen und die Veröffentlichung aller anderslautenden Dokumente zu verhindern.

Originaltitel: „Dr. von Bülow 32549 unser langjähriger Völkerbundreferent, wird an Stelle des nach London als Botschafter gehenden Dr. von Schubert als Staatssekretär im Auswärtigen Amt tätig sein“, 1926/28, Quelle: Bundesarchiv Bild Bild 146-1975-066-06, Foto: Robert Sennecke

Das Kriegsschuldreferat finanziert Publikationen und massenhaft verteilte Flugblätter. Zum Beispiel zitiert ein Flugblatt des Arbeitsausschusses Deutscher Verbände 1929 den Reichspräsidenten Paul von Hindenburg:

„Nicht Neid, Haß oder Eroberungslust gaben uns die Waffen in die Hand. Der Krieg war uns vielmehr das äußerste mit den schwersten Opfern des ganzen Volkes verbundene Mittel der Selbstbehauptung einer Welt von Feinden gegenüber. Reinen Herzens sind wir zur Verteidigung des Vaterlandes ausgezogen und mit reinen Händen hat das deutsche Heer das Schwert geführt.“

Originaltitel: „von Hindenburg beim Stahlhelmbund. Anläßlich der Fahnenweihe des Stahlhelmbundes übernahm Hindenburg das Protektorat. von Hindenburg(X) schreitet die Front der Stahlhelmleute ab. von Hindenburg im Festzuge der Stahlhelmleute“, 1924, Quelle: Bundesarchiv Bild 102-00391, Foto: o. Angabe

Die Verarbeitung des Weltkriegs

Diese „Welt von Feinden“ ist in monarchistischen Kreisen sprichwörtlich. Aber die Flugblatt-Propaganda kann sich auch auf den renommierten Berliner Historiker Hans Delbrück berufen:

„Von allen Großstaaten betrieb vor 1914 allein Deutschland eine Politik des Friedens und des Rechts, die anderen aber waren ihm weit voran durch ihre pazifistische Heuchelei.“

Ernsthafte Versuche, die Ursachen des Kriegsbeginns 1914 zu erforschen und die Erfahrungen der entfesselten Kriegsgewalt zu verarbeiten, gibt es in den öffentlichen Debatten der Weimarer Republik nur vereinzelt. Parlament, Regierung und Verwaltung vermeiden eine gewissenhafte Untersuchung des Kriegsanfangs. So bieten sie den Republikfeinden eine willkommene Angriffsfläche für eine sehr wirkungsvolle Propaganda gegen die Weimarer Republik.

Deutschlandfunk Kultur sendet in Kooperation mit dem Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (Potsdam) ab dem 25. August 2021 jeweils mittwochs gegen 19:25 Uhr die Reihe 100 Jahre politischer Mord in Deutschland.  

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Über uns 
Historikerin, Autorin, Kuratorin Mitarbeiterin im Projekt "Gewalt gegen Weimar" am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

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