Demokratiegeschichten

Flucht aus der DDR: Unter der Mauer hindurch

In der Reihe Flucht aus der DDR möchten wir Geschichten von Menschen erzählen, die aus der DDR geflohen sind, um ihren Traum eines demokratischen Lebens zu verwirklichen. Die Fluchtversuche wurden auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen unternommen. Was sie alle eint, ist der unglaubliche Mut derjenigen, die bereit sind, ihr Zuhause zurückzulassen und alles aufs Spiel zu setzen, um ein Leben in Freiheit führen zu können.

Bisweilen stellt sich ein Hindernis als schwer zu überwinden heraus. Es bietet sich in solchen Fällen an, einen Umweg zu wagen, der möglicherweise anstrengender, aber auch erfolgversprechender ist. Dies dachten sich zahlreiche Fluchtwillige aus der DDR, die gar nicht erst versuchten, die Mauer zu durchbrechen. Vielmehr suchten sie sich einen Weg unter ihr hindurch.

Mit dem Abwasser in die Freiheit

Einer von ihnen ist Carl-August von Halle. Seit dem Bau der Mauer fährt der Architekturstudent mehrmals nach Ost-Berlin. Dort informiert er Fluchtwillige über die Möglichkeit, durch die Kanalisation in den Westen zu entkommen. Studierende der Technischen Universität in West-Berlin verfügen über Pläne der Berliner Kanalisation, durch die dann tatsächlich zahlreiche DDR-Bürger*innen fliehen können.

Doch weil Ost-Berliner Sicherheitskräfte diese Fluchtmöglichkeit aufdecken, müssen die Helfer*innen ihre Tätigkeit einstellen. Carl-August von Halle möchte aber noch nicht aufgeben. Am 6. Oktober wird er, der weiterhin Fluchtwilligen in den Westen helfen möchte, schließlich an der Friedrichstraße in eine Falle gelockt und verhaftet. Zu einer über zweijährigen Haftstrafe verurteilt, verspricht er, im Westen für die Stasi zu arbeiten. Deshalb kommt er nach etwas über einem Jahr Haft frühzeitig frei. Für die Stasi arbeitet er aber nie, kehrt schließlich nach West-Berlin zurück und setzt sein Studium dort fort.

Wenn der Staat einem Gefängnis gleicht

Der „Tunnel 29“, durch den einer Gruppe von Ost-Berliner*innen im September 1962 die Flucht gelingt, Foto: Polizeihistorische Sammlung des Polizeipräsidenten in Berlin

Gerade in den 1960er Jahren ist eine andere unterirdische Fluchtmethode besonders beliebt: der Tunnelbau. Schätzungen dazu, wie viele selbst gegrabene Tunnel es insgesamt in Berlin während der Teilung der Stadt gibt, liegen zwischen 39 und 70. Mindestens 254 Menschen gelingt auf diesem Weg die Flucht.

So schafft es auch die Ost-Berlinerin Waltraud Niebank im Dezember 1961, durch einen geheimen Tunnel zu fliehen. Dessen Einstieg befindet sich auf einem Pankower Friedhof. Denn Sie möchte zu ihrem West-Berliner Ehemann gelangen. Trotz vorher ausgestellter Erlaubnis darf sie nach dem Mauerbau nicht mehr zu ihm reisen.

Wenige Tage später entdecken ostdeutsche Grenzpolizisten den Tunnel und überwachen ihn anschließend. Zwei weitere Frauen, die noch kurz vor dem Jahreswechsel nach Westen fliehen wollen, werden daraufhin von ihnen erwischt und verhaftet.

Und wer bezahlt?

Was bei Geschichten über Flucht häufig in Vergessenheit gerät, ist die Tatsache, dass solche Unternehmungen ja auch mit Kosten einhergehen. Eine Gruppe von West-Berliner Helfer*innen, die knapp 30 DDR-Bürger*innen bei der Flucht helfen möchte, geht dieses Problem im September 1962 recht pragmatisch an.

Sie graben einen 120 Meter langen Tunnel Richtung Osten. Sie finanzieren das Ganze durch den Verkauf der Filmrechte an Tunnelbau und Ankunft im Westen an den US-amerikanischen Sender TV-Sender NBC. Obwohl die Flucht der DDR-Bürger*innen am Ende gelingt, ist das Vorgehen bei der Finanzierung durchaus bei einem Teil der Helfer*innen umstritten.

Das ständige Risiko, entdeckt zu werden

Ein Tunnelbau ist immer eine enorme Kraftanstrengung für alle Beteiligten. Deshalb sollen natürlich immer so viele Menschen wie möglich bei einer Unternehmung fliehen können. Dies ist eigentlich auch für den „Tunnel 57“ geplant.

Gedenktafel am Haus Strelitzer Straße 55 in Berlin zur Erinnerung an den „Tunnel 57“, Foto: Creative Commons CC BY-SA 3.0

Nachdem hauptsächlich Studierende der Freien Universität knapp ein halbes Jahr an dem 145 Meter langen Tunnel in zwölf Metern Tiefe gearbeitet haben, entkommen am 3. und 4. Oktober 1964 knapp 57 Flüchtende in den Westen. Eigentlich ist hier die Flucht von noch weitaus mehr DDR-Bürger*innen Tunnel vorgesehen, doch bereits nach der ersten Fluchtwelle wird er verraten. Ohne dies zu wissen, wird die Aktion fortgesetzt, wobei einer der bereitstehenden DDR-Grenzsoldaten versehentlich erschossen wird – von einem Kollegen.

Auch wenn die 1960er Jahre die Hochphase der Tunnelfluchten sind, versuchen auch danach noch Menschen damit ihr Glück. So fliehen etwa von Klein Glienicke aus in der Nacht vom 25. auf den 26. Juli 1973 zwei Brüder mit ihren Frauen und insgesamt fünf Kindern, alle unter 14 Jahre, durch einen selbst gebauten Tunnel.

Dieser ist 19 Meter lang und wurde allein mit einer Kinderschaufel und einem stiellosen Spaten ins Erdreich getrieben. Die Grabenden lagern den Aushub im Keller, von dem aus der Tunnel startet. Eine nahe Verwandte verrät die Familien und ihre Fluchtabsichten zwar an die Stasi, aber da sind die Flüchtenden schon in West-Berlin. Der Tunnel wird von den Behörden sofort wieder verschlossen.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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