Demokratiegeschichten

Einfach mal „Nein“ sagen: Kommunalwahlen in der DDR

Wahlen sind eines der wichtigsten Elemente eines demokratischen Systems. Für die Partei oder Person stimmen, die man am geeignetsten findet? Eine Wahlkabine nutzen, damit keiner mitbekommt, wen man wählt? Oder gar nicht wählen gehen, weil man sich nicht entscheiden kann?
Alles kein Problem in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2024.

Anders damals in der DDR. Die Deutsche Demokratische Republik war anders, als ihr Name sagt, kein demokratisches System. Und dies zeigt sich unter anderem daran, wie Wahlen dort abliefen.

Außerordentliche Tagung im Plenarsaal des Palastes der Republik, September 1989
Außerordentliche Tagung der Volkskammer im September 1989; Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1989-0901-034 / Settnik, Bernd / CC-BY-SA 3.0.

Bei der Wahl keine Wahl haben

Wahlen gab es in der DDR von 1949 bis 1990. Doch nur die Wahlen des Jahres 1990 können als freie und demokratische Wahlen gelten.

Denn die zuvor stattfindenden Wahlen erfüllten diese Kriterien nicht. Verschiedene Aspekte der Wahlen zeigen, dass die DDR nur dem Namen nach eine Demokratie war.

Einheitslisten

Zum einen konnten DDR-Bürger:innen nicht zwischen verschiedenen Kandidat:innen wählen. Die Volkskammer, das Parlament der DDR, wurde über eine Einheitsliste gewählt.

Die Wahlliste war formell ein Bündnis von Parteien und Massenorganisationen. In der Volkskammer selbst war die SED-Fraktion (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) stets die größte Fraktion, aber sie hatte nie die absolute Mehrheit. Tatsächlich waren aber auch viele Mitglieder der anderen Fraktionen Parteimitglieder der SED.

Die Einheitsliste konnten Bürger:innen entweder komplett annehmen, indem sie „Ja“ ankreuzten. Oder den Zettel einfach falteten und – teilweise ungelesen – in die Wahlurne warfen. Deswegen nannte man den Wahlvorgang in der DDR spaßeshalber auch „falten gehen“. Es war zugleich ein kleines Zeichen dafür, dass man den Pseudo-Wahlprozess ablehnte.

Eine Wahl zwischen verschiedenen Abgeordneten, ein Entweder-oder, gab es nicht. Die Aufstellung der Abgeordneten der Parteien war im Vorhinein festgelegt.

Theoretisch konnte man auch „Nein“ ankreuzen oder einzelne Abgeordnete streichen. Das war allerdings durch den Ablauf im Wahllokal erschwert.

Geheim? Nur in der Theorie

Wahlkabinen standen zur Verfügung. Allerdings machte man sich allein durch die Nutzung verdächtig, gegen das System zu sein. In der Regel vermerkten die Wahlhelfer:innen, wer die Kabinen nutzte. Dasselbe galt natürlich dafür, wenn man mit „Nein“ stimmte oder einzelne Namen strich.

Eine geheime Wahl war also nicht gegeben. Jeglicher Versuch, anonym zu bleiben, aus welchen Gründen auch immer, wurde negativ gewertet. Dies war also keine Möglichkeit, das System der Einheitsliste und geforderten Zustimmung zu umgehen.

Was also, wenn man gar nicht zur Wahl erschien? War das eine Möglichkeit, doch noch aus der verordneten Zustimmung zu kommen?

Wahl-Pflicht

Nicht zur Wahl zu erscheinen war keine Möglichkeit. Es gab nicht nur eine Berechtigung aller Bürger:innen zu wählen, sondern es gab eine Pflicht dazu. Nicht-Erscheinen bei der Wahl galt ebenso als Zeichen der Opposition wie das Ablehnen der Liste.

Nicht nur Staatsangehörige der DDR, auch ausländische Arbeitskräfte aus den sogenannten sozialistischen Bruderstaaten gingen zur Wahl. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1989-0507-020 / Wolfgang Thieme / CC-BY-SA 3.0.

Die Wahlen 1989 – ein neues politisches Klima

Bei den Wahlen zur Volkskammer 1989 gab es einen entscheidenden Unterschied zu den vorherigen – obwohl sich am Prozess formell nichts änderte. Zum ersten Mal nutzte eine größere Anzahl von Bürger:innen ihre Möglichkeit, die Stimmauszählung zu beobachten. Diese Möglichkeit hatte nach § 37 Abs. 1 des DDR-Wahlgesetzes stets bestanden. Doch oft hinderten sie beispielsweise SED-Mitarbeitende an der Wahrnehmung dieses Rechts.

Das politische Klima war jedoch ein anderes als in den Jahrzehnten zuvor. Mit dem Amtsantritt des sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow kam es zu einer neuen Transparenz und Umgestaltung in der UdSSR. Auch in den anderen Ostblockstaaten warb Gorbatschow für seinen Kurs von „Glasnost und Perestroika“. Bereits im Februar 1989 fanden beispielsweise in Polen Gespräche zwischen Regierung und Opposition am „Runden Tisch“ statt. Daraufhin wurde im April die oppositionelle Gewerkschaft Solidarność wieder zugelassen, im Juni sollten wieder einigermaßen freie Parlamentswahlen stattfinden. Und in Ungarn begann die kommunistische Regierung Anfang Mai gar damit, die Grenzanlagen zu Österreich abzubauen.

Der „Eiserne Vorhang“ bröckelte, das merkten auch die Menschen in der DDR. Dass ihre Regierung weiterhin nicht zu Reformen bereit war, ließ die Unmut im Land steigen. Und führte dazu, dass immer mehr Bürger:innen aktiv wurden.

Verschwundene Nein-Stimmen

Vor den Wahlen 1989 sprachen sich Bürgerrechtler:innen ab, um möglichst viele Auszählungen beobachten zu können. In etwa 1.000 Wahllokalen landesweit kamen Bürger:innen dem Aufrufen aus der Opposition nach, die Stimmauszählung zu beobachten und zu protokollieren.

Die unabhängigen Beobachter:innen schrieben sich die Auszählungsergebnisse der Wahlvorstände vor Ort auf und verglichen sie anschließend mit den offiziell veröffentlichten Zahlen.  Dabei fiel auf, dass die Anzahl der abgegebenen Nein-Stimmen oft höher war, als von amtlicher Seite verkündet. Oder dass die Anzahl der Nein-Stimmen in einem beobachteten Wahlkreis überproportional hoch im Vergleich zum Gesamtwahlergebnis der entsprechenden Gemeinde oder des entsprechenden Bezirks war.

Ein Beispiel: Im Stadtbezirk Berlin-Weißensee wiesen Bürgerrechtler:innen nach, dass die in den Wahllokalen direkt bei der Auszählung dokumentierte Zahl der Neinstimmen 95 Prozent der offiziell für den Stadtbezirk angegebenen Nein-Stimmen umfasste. Dabei hatten sie die Auszählung nur in einem Teil der Wahllokale verfolgt. Dass sich auf die restlichen Wahllokale des Stadtbezirks nur 5 Prozent der Stimmen verteilen sollten, war zutiefst unwahrscheinlich. Zu solchen Auffälligkeiten kam es an mehreren Orten. Damit war klar, dass die offiziell verkündete Zustimmungsrate von 98,85 Prozent für die SED-Führung gefälscht war.

Veröffentlichung des Wahlbetrugs

Die Beobachtungen machten Bürgerrechtler:innen unter anderem bei Veranstaltungen in Kirchengemeinden öffentlich und informierten auch Westmedien. Offen beschuldigten sie die SED-Führung der Wahlfälschung. Außerdem teilten 18 Initiativgruppen der DDR in einer „öffentlichen Stellungnahme“ mit, dass die registrierten Manipulationen nicht nur auf Wahlkreise in Berlin zuträfen, „sondern auch durch Beobachtungen in anderen Bezirken bestätigt“ worden seien.

Sie beschwerten sich außerdem, dass die Wahlbeobachtung in mehreren Wahllokalen unterbunden worden sei, so etwa in Rostock, Jena, Weimar, Erfurt, Naumburg und auch in Berlin. Zu den Unterzeichnern gehörten u.a. die Oppositionsgruppen Kirche von Unten, Initiative für Frieden und Menschenrechte, Frauen für den Frieden, Umweltbibliothek Berlin und der Arbeitskreis Solidarische Kirche in Dresden.

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Titelseite des Informationsblattes der ökologischen Arbeitsgruppe beim evangelischen Kirchenkreis Halle/Saale. Innerkirchliche Drucksache 245-16/1-700, Juni 1989; Foto: CC BY-SA 4.0 DEED.

Desweiteren kam es nach den Veröffentlichungen zu offiziellen Beschwerden bei staatlichen Stellen. Sogar einzelne Strafanzeigen wegen Wahlbetrugs wurden gestellt. Die Lösung der DDR-Führung: Anzeigen seien kommentarlos entgegenzunehmen und „nach Ablauf der vorgesehenen Fristen für die Anzeigenbearbeitung“ abzuweisen. Von den jeweils zuständigen Organen sei „zu antworten, dass keine Anhaltspunkte für den Verdacht einer Straftat vorliegen“. Beschwerden dagegen seien „abschlägig zu bescheiden“.

Hier zeigt sich ein erster Kontrollverlust – oder auch ein Deutungsverlust – der DDR-Führung. Auch wenn die Wahlergebnisse offiziell bestehen blieben hatten die Wahlen doch gezeigt, dass die Bürger:innen nicht mehr bereit waren, sich alles gefallen zu lassen. Sie nutzten ihre Spielräume aus, um auf offensichtliches Unrecht hinzuweisen und dieses anzuprangern.

In den folgenden Wochen und Monaten erstarkte die Oppositionsbewegung der DDR weiter. Die Vorkommnisse im Ausland, die Ausreisewelle, aber auch die zunehmenden Proteste und Demonstrationen verliehen ihr starken Auftrieb. Neue Initiativen gründeten sich, auch über die Gründung neuer Parteien wurde spekuliert. Auf den im Herbst stattfindenden Demonstrationen war auch der Spruch „Freie Wahlen statt falscher Zahlen“ gegenwärtig.

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Über uns 
Annalena B. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinatorin im Bereich Demokratiegeschichte.

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