Demokratiegeschichten

Eine neue Hauptstadt für ein neues Deutschland

Die Hauptstadt eines Landes ist häufig der Sitz aller oder zumindest einiger der wichtigsten Staatsorgane. Außerdem dient sie zur Repräsentation nach innen wie nach außen. So finden beispielsweise wichtige Demonstrationen dort statt und internationale Staatsgäste werden hier begrüßt. Was in der Hauptstadt passiert, hat immer auch eine gewisse Strahlkraft auf den Rest des Landes, denn hier verbinden sich tatsächliche und symbolische Macht einer Nation.

Die alte Hauptstadt in Trümmern

So spielt sich auch die letzte große Schlacht des Zweiten Weltkriegs in Europa in Berlin ab, der Hauptstadt des nationalsozialistischen Deutschen Reiches. Die Alliierten besiegen das sogenannte Dritte Reich zwar letztlich, doch von Berlin ist da nur noch ein riesiges Ruinenfeld übrig. Die Zerstörungen sind so verheerend, dass manche vorschlagen, gar nicht erst zu versuchen, die Trümmer zu beseitigen, sondern Berlin einfach an einer anderen Stelle neu aufzubauen.

Die sich verdüsternde Stimmung zwischen den westlichen Alliierten auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite nach dem Sieg über Hitler-Deutschland und der heraufziehende Kalte Krieg bestimmen bald das Geschehen. Aufgrund Berlins Lage mitten in der Sowjetischen Besatzungszone und der damit verbundenen unsicheren Situation kommt die Frage auf, welche Stadt stattdessen der Regierungssitz eines künftigen westdeutschen Staates werden könnte.

Der zerstörte Potsdamer Platz im Zentrum Berlins, 1945. Quelle: Library and Archives Canada, gemeinfrei

Die Hauptstadt, die nicht so zu bezeichnen ist

Dies ist nur eine von vielen Herausforderungen, denen sich die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, der verfassungsgebenden Versammlung in den drei westlichen Besatzungszonen, stellen müssen. Den Begriff „Hauptstadt“ wollen alle Beteiligten allerdings tunlichst vermeiden, da jede Alternative zu Berlin eigentlich nur als Übergangslösung gedacht ist. Sie soll nur gelten, bis es – viele hoffen, sobald wie möglich – wieder einen einheitlichen deutschen Nationalstaat gibt. Nichtsdestotrotz setzt sich für diese Diskussion die Bezeichnung „Hauptstadtfrage“ durch.

Zunächst bewerben sich zwei Städte als künftiger Regierungssitz: Bonn und Frankfurt am Main. Im Oktober und November 1948 setzen sich Vertreter der beiden Kandidaten beim Ältestenrat der verfassungsgebenden Versammlung für ihre Stadt ein. Doch dann werfen auch noch Kassel und Stuttgart ihre Namen in den Ring. Daraufhin wird am 27. Januar 1949 die Kommission zur Prüfung der Angaben der Städte Bonn, Frankfurt a.M., Kassel und Stuttgart betr. Vorläufiger Sitz des Bundes ins Leben gerufen. Ihre Mitglieder besuchen zunächst vier Städte und legen dann im März einen neutralen Bericht vor, der die Entscheidung an den Parlamentarischen Rat weiterreicht.

Ein Gerücht gibt den Ausschlag

Bundeskanzler Konrad Adenauer im Deutschen Bundestag, 1955. Quelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-F002449-0027 / Unterberg, Rolf / CC-BY-SA 3.0

Die beiden Nachrücker Kassel und Stuttgart scheiden schließlich wieder als Optionen aus: Kassel aufgrund der zu starken Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg und seine Nähe zur innerdeutschen Grenze; Stuttgart, weil die Stadt mit extremen finanziellen Problemen zu kämpfen hat. Im Parlamentarischen Rat bilden sich nun bald zwei Lager heraus. Die SPD favorisierte Frankfurt am Main, wohingegen die meisten Unionsabgeordneten um Konrad Adenauer Bonn bevorzugen. Die hessischen CDU-Männer allerdings tendieren eher zu Frankfurt. Heimatstolz steht bei ihnen über Parteiloyalität.

Für Bonn sieht es kurz vor der Abstimmung gar so schlecht aus, dass der Frankfurter Oberbürgermeister bereits beim Radio eine Dankesrede aufnehmen lässt. Als ehemaliger Sitz der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 verfügt Frankfurt schließlich über eine demokratische Tradition, an die sich gut anknüpfen ließe.

Allerdings gelingt es Konrad Adenauer mithilfe eines Gerüchts die hessischen Abgeordneten seiner Partei auf Linie zu bringen. Laut einer „vertraulichen Meldung“ habe sich Kurt Schumacher, der Vorsitzende der SPD, während einer Vorstandssitzung über die kurz bevorstehende „sichere Niederlage“ der Konservativen gefreut. Die Hessen ändern daraufhin ihre Meinung und schwenken ins Bonn-Lager um. Die Meldung wird nie offiziell veröffentlicht, Adenauers Coup gelingt aber trotzdem.

Jetzt Bonn, irgendwann wieder Berlin

Die Abstimmung zur Hauptstadtfrage am 10. Mai 1949 wird, anders als die üblichen Abstimmungen des Parlamentarischen Rates, auf einen SPD-Antrag hin im Geheimen durchgeführt. Doch trotzdem fällt die Entscheidung schließlich mit 33 von 62 Stimmen auf Bonn. Die Stadt am Rhein wird also „vorläufiger Sitz der Bundesorgane“ und damit provisorische Hauptstadt. Die Verkündung des Ergebnisses wird vom größtenteils Bonner Publikum mit Applaus und Jubel angenommen.

Sitzung des Deutschen Bundestags in Bonn, 1954. Quelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-F002349-0009 / Brodde / CC-BY-SA 3.0

Ende des Jahres, am 3. November 1949, wird die Hauptstadtfrage dann noch einmal diskutiert und endgültig entschieden, dieses Mal im 1. Deutschen Bundestag. Wieder geht die Entscheidung über den Regierungssitz zugunsten Bonns aus, Berlin wird aber als „Hauptstadt“ bestätigt. Dorthin sollen die Sitze der Bundesorgane verlegt werden, „sobald allgemeine, freie, gleiche, geheime und direkte Wahlen in ganz Berlin und in der Sowjetischen Besatzungszone durchgeführt sind.“ Davon, dass dies erst vier Jahrzehnte später der Fall sein wird, gehen zu diesem Zeitpunkt wohl die wenigstens aus.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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