Demokratiegeschichten

„Keine Frage der Zweckmäßigkeit“

Immer häufiger hört man in letzter Zeit Sätze wie „Die Demokratie funktioniert nicht mehr“ oder „Sie vermag ihre Zwecke nicht mehr zu erfüllen“. Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen einer sich rasant verändernden Welt erscheint das unmittelbar einleuchtend. Ist es nicht wahr, dass sich die Parlamente und Regierungen selbst lähmen, allenfalls noch um sich selbst kreisen, aber die wirklich brennenden Fragen nicht beantworten?

 

Die Demokratie als Problemlösungs-Tool?

Doch wird das der Bedeutung von Demokratie gerecht?  Ist Demokratie einfach ein effizientes Problemlösungs-Tool? Der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt sah das anders. In einem berühmt gewordenen Satz von ihm, einem Demokratiezitat, heißt es:

„Die Demokratie ist uns keine Frage der Zweckmäßigkeit, sondern der Sittlichkeit.“

 

Was meinte er mit diesem leicht altmodisch klingenden Wort Sittlichkeit? Die volkstümlichen Sitten und Gebräuche des Landes? Oder vielleicht eine strenge Erziehung, die einem brav zu antworten und ordentlich mit Messer und Gabel zu essen vorschreibt? Das alles war es sicher nicht, worauf Brandt hinauswollte. Mit dem alten philosophischen Begriff Sittlichkeit meinte er vielmehr, grob gesagt: die gesamte Moral der Gesellschaft.

 

Eine Frage der Moral

Demokratie ist also eine Frage der Moral, des richtigen Handelns. Und das bedeutet auch: Für Demokratie muss man sich entscheiden, aus einer freien Überzeugung heraus. Zwar kann es mitunter durchaus sein, dass die Demokratie die effizienteste Staatsform ist und der Gesellschaft Wohlstand und Erfolg verschafft. Doch davon darf die Demokratie selbst niemals abhängen.

 

Willy Brandt schrieb diesen oben zitierten Satz wenige Jahre vor seinem Tod in seinen Lebenserinnerungen. Zu diesem Zeitpunkt blickte er auf ein langes, ereignisreiches Demokraten-Leben zurück. Den Nationalsozialismus hatte er ebenso gesehen wie die frühe Bundesrepublik, die im Wirtschaftswunder der 50er und 60er Jahre zu einer stabilen Demokratie herangewachsen war. Später trug er als Bundeskanzler lange Jahre selbst die Verantwortung, die demokratische Idee in praktische Politik umzusetzen.

 

Das Bekenntnis zur Demokratie

Vor diesem Hintergrund war Brandts Urteil: Demokratie ist keine Frage der Zweckmäßigkeit. Das bedeutete für ihn auch: Die NS-Diktatur war nicht nur deswegen schlecht, weil sie gescheitert ist. Und die nachfolgende Demokratie war nicht nur deswegen gut, weil sie (wirtschaftlich) erfolgreich war.

 

Demokratie ist ein grundsätzlicher moralischer Auftrag, das Bekenntnis zu einer gerechten Gesellschaftsordnung, die die Freiheit und Gleichheit aller Menschen achtet. Das ist keine Frage der Zweckmäßigkeit oder eines Kosten-Nutzen-Kalküls. Gerade auf dem historischen Boden der NS-Verbrechen.

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1 Kommentar

  1. Kerstin

    29. Januar 2019 - 10:16
    Antworten

    Danke für die Anregung. Demokratie ist für uns so selbstverständlich geworden, dass es gut tut an die Werte dahinter erinnert zu werden. Da hilft manchmal die Auseinandersetzung mit „altbackenen“ Begriffen wie Sittlichkeit…

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