Demokratiegeschichten

Alt und Jung im engen Kontakt: Philadelphisches Jahr im Augustinum

In unserer Themenreihe „Stets zu Diensten“ veröffentlichen wir die Berichte von (ehemaligen) Zivildienstleistenden, Freiwilligen und Menschen, die einen Wehrersatzdienst geleistet haben.

Cordelia Koppitz hat Englisch und Geschichte studiert, mit ihrem Mann fünf Kinder großgezogen und ehrenamtlich 25 Jahre lang als Übersetzerin, Lektorin und Stillberaterin der La Leche League International gearbeitet, davon fast 12 Jahre in den USA.

Bei welcher Organisation haben Sie Ihren Freiwilligendienst getätigt und wann/wie lange? Um welche Art Freiwilligendienst handelte es sich?

Zunächst möchte ich vom Philadelphischen Dienst, erdacht von Frau Gertrud Rückert, berichten. Ich habe diesen 1965/66 im Augustinum München geleistet.

Ihr Mann und sie hatten 1962 das erste „Wohnstift Augustinum“ gegründet, ein Altersheim der etwas anderen Art: jede Menge kultureller Angebote, ein Theatersaal, ein lebhaftes Miteinander der Bewohner mit vielen Interessengruppen. Und mit dazu junge Menschen, frisch von der Schulbank (also die typischen Abiturienten, die noch nicht wissen, was sie nach dem Abitur nun studieren sollen), die Frau Rückert nun unter die alten Bewohner „mischen“ wollte. Alt und Jung im engen Kontakt, das schwebte ihr vor. Geprägt vom christlichen Gedanken der Bruderliebe ( gr. Philadelphia) gab sie jungen Menschen die Möglichkeit, ein Jahr sich sinnvoll sozial zu engagieren. Insofern war Frau Rückert eine echte Pionierin. Als Entgelt gab es vier Semester freie Wohnung und Verpflegung nach dem abgeschlossenen „Philajahr“.

Was waren Ihre Aufgaben?

Wir wurden in sämtlichen Bereichen des Augustinum eingesetzt: Pflege, Empfang, Klinik, Service, Küche, Wäscherei. Die Zivildienstleistenden arbeiteten als Hausmeister oder in der Technik.

Warum haben Sie sich damals für diesen Freiwilligendienst entschieden?

Weil ich noch nicht genau wusste, welches Fach ich studieren wollte, erschien es mir und meinen Eltern vernünftig, etwas ganz Anderes, dabei aber Sinnvolles zu machen.

Was haben Sie in Ihrer Zeit im Freiwilligendienst gelernt/“Lektionen fürs Leben“ ?

Anlässlich des 50. Jubiläums des Freiwilligendienstes sammelte das Augustinum Berichte von ehemaligen Freiwillgen; Foto: Augustinum Freiwilligendienste.

Da wir alle frisch von der Schulbank kamen, waren wir ganz unvorbereitet auf unsere Aufgaben, wurden aber von Anfang an voll in die Verantwortung genommen. Es wurde einfach vorausgesetzt, dass wir uns sofort in das jeweilige Aufgabenumfeld einarbeiten konnten. Ebenfalls war es völlig selbstverständlich, dass es keinerlei „schlampiges“ oder gleichgültiges Arbeitsverhalten gab. Die Lektion fürs Leben war also: Auch neue, unbekannte Aufgaben sollten mit der nötigen Konzentration und Hingabe gemeistert werden können.

Ein Moment, der bei mir hängengeblieben ist…

Das ist schwierig, weil es ziemlich viele sind! Ein Beispiel: Weil ich Englisch sprach, las ich regelmässig einer bettlägerigen Bewohnerin aus dem Roman von Charles Dickens „David Copperfield“ vor. Die alte Dame starb nach einiger Zeit – hatte aber bestimmt, mir nach ihrem Tode den Band zu übergeben! Ich war sehr gerührt und besitze das Buch heute noch.

Oder: Es fand ein großer Faschingsball im Haus statt, das Thema war: „Zu Gast bei Fürst Esterhazy“. Eine Bewohnerin besaß einen Kostümfundus, mit dem sie etliche von uns „Philas“ ausstattete. Mich hingegen schickte sie zum „Stiftsfriseur“, damit er mir eine Frisur im Stil von 1795 mache! Die junge Friseuse, die diese Frisur zustande bringen sollte, war ganz begeistert – da konnte sie einmal zeigen, was sie in ihrer Ausbildung gelernt hatte. (Das Ergebnis war auch phänomenal edel – allerdings brauchte es drei Haarwäschen, um die weiße Farbe wieder herauszubringen…)

Wenn Sie heute wieder vor der Entscheidung ständen, würden Sie sich nochmal für den Freiwilligendienst entscheiden?

Unbedingt!! Die Auseinandersetzung mit so vielen anderen jungen Menschen, die aber gut zusammenarbeiten sollten, war eine unglaubliche Erfahrung. Auch die Beziehungen, ja, Freundschaften mit den alten Bewohnern im Augustinum empfanden wir alle als zutiefst bereichernd.

Ein Rat für zukünftige Freiwillige

Lassen Sie sich ganz offen und ohne Vorbehalte und Kritikbereitschaft auf Ihre Aufgabe ein. Diese Einstellung halte ich für immens wichtig. – Erst, wenn Sie alles gut kennengelernt haben, können Sie evtl. berechtigte Kritik anbringen.

Wenn ihr auch noch eine Geschichte zu erzählen habt, kommentiert unter den Beiträgen oder schreibt eine Mail an info@gegen-vergessen.de.

Artikel Drucken
Markiert in:
Über uns 

0 Kommentare

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert