Demokratiegeschichten

Versuch einer notwendigen Modernisierung – das Osmanische Grundgesetz

Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter des Konstitutionalismus. Eine Verfassung zu haben, war auch in Monarchien ein Zeichen von Modernität und, in manchen Fällen, schlicht eine Notwendigkeit. Selbstverständlich waren nicht alle davon demokratisch, doch bildeten sie – im Idealfall – den Rahmen, in dem verantwortungsvolles Regierungsverhalten stattfand und Untertanen gewisse Recht zugesprochen wurden.

Auch im knapp sechshundert Jahre alten Osmanischen Reich, das die Sultane von Istanbul aus regierten, gab es verschiedene Erlasse und Abkommen, die zumindest in die grobe Richtung einer konstitutionellen Monarchie gingen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde dieses Imperium, das Europa und Asien miteinander verband, jedoch zunehmend zum „kranken Mann am Bosporus“. Eine wirtschaftliche, finanzielle oder politische Krise löste die nächste ab. Eine Modernisierung des Systems könnte in diese Situation etwas Stabilität bringen.

Kuhhandel – Thron für Verfassung

So befürwortete ein Teil der Regierung, unter dem Eindruck von Aufständen im europäischen Teil des Reiches im Sommer 1876, die Verabschiedung einer Verfassung. Sie sollte allen Untertanen des Sultans dieselben Rechte einräumen und damit die Unzufriedenheit in der Bevölkerung aus der Welt schaffen. Das Vorhaben war entsprechend nicht wirklich ein Kind liberaler Überzeugungen, sondern eher ein machtpolitisches Instrument. Außerdem sollte sie einen Krieg mit Russland, welches sich als Beschützer der unzufriedenen slawischen Bevölkerung im Osmanischen Reich verstand, verhindern.

Sultan Abdülhamid II. (1867). Quelle: Bibliothèque nationale de France, gemeinfrei

Der Vorsitzende des Staatsrates, Midhat Pascha, der wichtigste Verfassungsbefürworter, bot dem Bruder des geistig erkrankten Sultans in dieser Situation den Thron an, sofern er sich bereiterklärte, eine Verfassung anzunehmen. Der Anwärter willigte ein und erklomm als Abdülhamid II. den Thron. Nach etwas Zögern löste der neue Sultan dann auch sein Versprechen ein und berief einen Verfassungsausschuss unter Vorsitz Midhat Paschas ein.

Er löste sich zwar aufgrund heftiger Streitereien schon nach kürzester Zeit wieder auf, woraufhin ein neues Gremium einberufen wurde. Dieses erarbeitete aber schließlich mehrere Verfassungsentwürfe, von denen der finale Anfang Dezember 1876 fertiggestellt und angenommen wurde. Midhat Pascha wurde zum Großwesir und am 23. Dezember trat die Verfassung, das Kanun-i Esasi (wörtlich: „Grundgesetz“), durch kaiserlichen Erlass in Kraft. Dies markiert den Beginn der sogenannten ersten konstitutionellen Periode der türkischen Geschichte.

Vielversprechende Grundlagen

Diese erste – und gleichzeitig letzte – osmanische Verfassung bestand aus zwölf Titeln und beinhaltete anfangs 119 Artikel (die Zahl erhöhte sich 1909 auf 121). Kern des Grundgesetzes war die Einführung eines Zweikammernparlaments, bestehend aus Senat und Abgeordnetenhaus (Art. 42 und 43). In ihm sollten auch religiöse Minderheiten ordentlich vertreten sein.

Das Titelblatt des Osmanischen Grundgesetzes von 1876. Quelle: gemeinfrei

Das Parlament ging aus einer Mehrstufenwahl hervor, wobei die Bevölkerung nur auf der Ebene der Gerichtsbezirke tatsächlich wählte. Bei allen anderen Ebenen schlug die untere jeweils der übergeordneten Stufe Kandidaten vor. Deswegen wählte letztlich die Regierung die Angehörigen des Parlaments aus einem Pool an Kandidaten aus. Nichtsdestotrotz spiegelte es durchaus die ethnische und religiöse Vielfalt des Osmanischen Reiches wider.

Außerdem gewährte die Verfassung den Schutz von Grundrechten (Art. 8 bis 26 und ab 1909 in Art. 119 und 120) für die Bewohner:innen des Osmanischen Reiches. Als „Osmanen“ verstand das Grundgesetz alle Untertanen des Sultans, unabhängig ihres religiösen Glaubens. Darüber hinaus gab der Sultan ein paar seiner umfänglichen Rechte auf, bestimmte aber immer noch die Gesetzgebung und bestand auf ein Verbannungsrecht (Art. 113 Satz 3). Trotzdem hatte das Grundgesetz durchaus großes Potenzial, ein erster Schritt und Wegbereiter einer tatsächlichen konstitutionellen Monarchie im Osmanischen Reich zu werden.

Absolutismus trotz Verfassung

Doch bereits im Februar 1877 setzte Sultan Abdülhamid II. Midhat Pascha, den „Vater des Grundgesetzes“, wieder ab, verbannte ihn sogar. Den befürchteten Russisch-Osmanischen Krieg verhinderte die Verabschiedung der Verfassung letztlich auch nicht. Der Konflikt endete mit einer osmanischen Niederlage.

Eröffnung des ersten osmanischen Parlaments 1877. Quelle: The Illustrated London News, gemeinfrei

Der Sultan, der befürchtete, das Parlament könne ihn persönlich für die Niederlage im Krieg verantwortlich machen, schloss es daraufhin bereits im Juli 1878 auf unbestimmte Zeit. Da er es aber nicht offiziell auflöste, kam es nicht zu Neuwahlen. Abdülhamid II. regierte, zunehmend paranoid und seinen Palast so gut wie nie verlassend, drei Jahrzehnte lang mithilfe der Geheimpolizei als absoluter Monarch. Die Verfassung blieb in dieser Zeit formal in Kraft, auch die Gleichberechtigung aller Untertanen unabhängig ihres Glaubens behielt der Sultan bei.

Erst im Zuge der Jungtürkischen Revolution und durch Druck vom Militär musste der Sultan im Juli 1908 das Parlament wieder zusammenrufen bzw. dessen Suspendierung für beendet erklären. Die Pressezensur wurde vollständig aufgehoben, weswegen sich in kürzester Zeit eine an Politik interessierte Öffentlichkeit entwickelte. Bald schon fanden Wahlen statt und im Dezember kam das neue Parlament erstmals zusammen.

Die Jungtürken und der Weltkrieg

Die Jungtürken setzen umgehend Verfassungsänderungen durch, die die Rechte des Sultans enorm beschränkten und diejenigen des Parlaments stärkten. Entsprechend war künftig die Regierung dem Parlament, nicht mehr dem Sultan verantwortlich. Dieser nahm vielmehr nur noch eine symbolische Rolle ein. Außerdem konnte das Parlament nun selbst Gesetze einbringen. Die Bevölkerung erhielt Versammlungs- und Streikrechte. Das Osmanische Reich machte in dieser zweiten Verfassungsperiode einen enormen Schritt in Richtung parlamentarischer Monarchie.

1914 erklärt das Osmanische Reich den Entente-Mächten den Krieg und ruft zum Dschihad gegen seine Feinde auf. Quelle: gemeinfrei

Doch die Balkankriege (1912 und 1913) und dann der Erste Weltkrieg (1914–1918) versetzten dem Osmanischen Reich den Todesstoß. Daran konnten auch die Maßnahmen der Jungtürken nichts mehr ändern – sie waren trotz aller Modernisierungsbemühungen auch nicht ganz unschuldig daran. Letztlich waren sie es gewesen, die den Kriegseintritt an der Seite des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns und Bulgariens beschlossen hatten.

Die Mittelmächte verloren den Weltkrieg, was auch das Ende des Osmanischen Reiches und seines Grundgesetzes von 1876 besiegelte. Zwischen 1921 und 1923 schaffte die Große Nationalversammlung die Verfassung schrittweise ab. Mit der Gründung der Republik Türkei war sie dann vollends aufgehoben.

Dieser Beitrag ist Teil der Blog-Reihe „In guter Verfassung“. Mit ihr möchten wir verschiedene gegenwärtige und historische Verfassungen vorstellen und dabei zeigen, wie sie Staaten und Menschen beeinflusst haben – und von diesen beeinflusst wurden.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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