Demokratiegeschichten

Volkskammerwahl 1990 – Dresdner Dachbodenfund als Seismograf der Gesellschaft

Mitten bei sich zu Hause spannende historische Dokumente ausgebreitet zu haben und sich diese wochenlang anschauen zu können – das würde wohl bei vielen Geschichtsinteressierten Begeisterung auslösen. Genau diese Chance hatten wir (meine Mitschülerin Louisa Barth und ich), als uns ein ehemaliger Lehrer rund 600 Wahlkampfmaterialien der Volkskammerwahl der DDR des 18. März 1990 übergeben hat, die er damals in der Wahlkampfzeit systematisch und umfassend gesammelt hatte. Daraus entwickelte sich für uns ein sehr spannendes Projekt.

Zahlreiche Angebote

Bei der Betrachtung der Materialien zeigte sich schnell, dass die deutsche Einheit mit Übernahme des bundesdeutschen Systems im Jahr 1990 gar nicht so selbstverständlich war, wie man es heutzutage annehmen könnte. So plädierte beispielsweise das Bündnis 90 der Bürgerbewegungen für eine demokratische Umgestaltung der DDR mit u. a. Beibehaltung der Runden Tische der Umbruchzeit. Die DDR sollte sich langsam an die Bundesrepublik annähern und eine Wiedervereinigung zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden.

Auch die PDS als Nachfolgepartei der SED warnte – beinahe erwartungsgemäß – vor einer schnellen Wiedervereinigung. Hätten diese beiden Parteien bzw. Bündnisse oder die SPD, die Grüne Partei oder die NDPD ihre Vorstellung realisiert, wäre auch die Entwicklung einer neuen Verfassung nach Artikel 146 des Grundgesetzes möglich gewesen. Eine Übernahme des Grundgesetzes nach Artikel 23 und die dadurch mögliche schnelle Wiedervereinigung forderte vor allem, und sehr entschieden, die Allianz für Deutschland, das Wahlbündnis aus CDU, DA (Demokratischer Aufbruch) und DSU (Deutsche Soziale Union). Ihren Lösungsansatz fasste sie in knappe Slogans wie die abgeänderte Parole der Friedlichen Revolution „Wir sind ein Volk“ und konnte so die Massen für sich gewinnen.

Faire Chancen?

Überblick über die Anzahl der Materialien unserer Wahlkampfsammlung.

Große Unterschiede offenbart das Wahlkampfmaterial auch in der Menge und der Gestaltung. Während bei der SPD, dem Bund Freier Demokraten und der Allianz für Deutschland viele professionell produzierte Materialien auffallen,  zeigen sich gleichzeitig bei allen Parteien und Bündnissen ebenso Wahlkampfsachen, die handschriftlich und mit der Schreibmaschine geschrieben oder weniger hochwertig gedruckt wurden.

Ersteres deutet auf eine materielle Unterstützung durch die westdeutschen Schwesterparteien hin, letzteres beweist großes Engagement von kleineren Initiativen in der DDR, die sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln in den Wahlkampf eingebracht haben. Das zeugt für mich von einem beeindruckenden Demokratiewillen, den Umbruch tatkräftig mitgestalten zu wollen.

Mit Abstand das meiste Material unserer Sammlung stammt zusammengenommen von der Allianz für Deutschland, zudem wurden von diesem Bündnis die meisten Wahlkundgebungen veranstaltet. Neben dem Wunsch der breiten Bevölkerung für eine gesicherte und schnelle Wiedervereinigung war auch das vielleicht einer der Faktoren, die zum Wahlsieg der Allianz für Deutschland mit 48 Prozent führten.

Blick in die Gegenwart

Nachdem das Wahlkampfmaterial uns einen Einblick in die spannende Umbruchphase der DDR verschaffen konnte, wollen wir es auch anderen Interessierten ermöglichen eigene Erkenntnisse daraus zu ziehen.

Das ist für mich auch deshalb besonders wichtig, da heutzutage wieder viel über die Bewertung der Wiedervereinigung diskutiert wird und dabei oftmals nur die eigenen Erfahrungen als Diskussionsgrundlage dienen. Die nötige Faktengrundlage wäre u. a. durch die Wahlkampfsammlung geschaffen.

Deswegen haben wir die Sammlung inklusive von Digitalisaten aller Archivalien dem Archiv der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur übergeben.

Ausschnitt aus der digitalen Ausstellung.

Die digitale Ausstellung

Außerdem haben wir eine digitale Ausstellung über die Zeit der Friedlichen Revolution bis zu Volkskammerwahl 1990 erstellt, die nicht nur Zeitzeugen zum  Erinnern und zum Erfahrungsaustausch anregen, sondern auch den Dialog mit unserer Generation, beispielsweise mit Schülern, fördern soll. So könnten Fragen wie die folgenden beantwortet werden: An welche Losungen der Friedlichen Revolution erinnern Sie sich? Welche Ereignisse waren für Sie von besonders großer Bedeutung? Aus welchen Gründen befürworteten Sie eine Reformierung der DDR oder die Wiedervereinigung und ab welchem Zeitpunkt? Welche Veränderungen beeinflussten Ihr Leben in positiver oder negativer Weise?

Falls Ihr Interesse an der digitalen Ausstellung geweckt wurde, können Sie diese unter suhl20BaeckerBarth[at]gmx.de anfragen.

Wir hoffen, dass wir durch unser Projekt zur Belebung der konstruktiven Diskussion über Demokratie in unserer Gesellschaft beitragen können.

Frederike Bäcker ist ehemalige Schülerin. Aus ihrer Teilnahme am Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2018/2019 „So geht’s nicht weiter. Krise, Umbruch, Aufbruch“ entwickelte sich ihr Projekt zur Volkskammerwahl der DDR 1990.

Artikel Drucken
Markiert in:
Über uns 

0 Kommentare

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert