An eine besondere und vielseitige Frau möchte ich heute, am 26. Juni 2019, erinnern: an die Widerstandskämpferin Tony Sender (1888-1964).
Sie war sowohl Sozialdemokratin und Reichstagsabgeordnete als auch Gewerkschafterin, Journalistin und Menschenrechtlerin – und darüber hinaus „Rebellin, Demokratin, Weltbürgerin“. Unter diesem Titel widmete ihr das Historische Museum in Frankfurt am Main 1992 eine Ausstellung.
In der Weimarer Republik setzte sich Tony Sender vehement für die Verteidigung der Demokratie ein. Gegen den Nationalsozialismus kämpfte sie – bereits 1933 zur Flucht gezwungen – vor allem aus dem Exil heraus. Sie kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nach Deutschland zurück, sondern blieb in den USA. Dort war sie für die Vereinten Nationen tätig und wirkte an der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mit.
Doch beginnen wir von vorn:
Sidonie Zippora Sender, so ihr bürgerlicher Name, wurde am 29. November 1888 in Biebrich am Rhein geboren. Sie wuchs in einem gut situierten, konservativen, orthodox jüdischen Elternhaus auf. Ihre Eltern legten viel Wert auf Ordnung und Gehorsam – was bei ihrer rebellischen Tochter auf wenig Gegenliebe stieß. Von Kindheit an lehnte sich Tony Sender gegen die Strenge ihrer Eltern auf und strebte nach Unabhängigkeit und der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Ihr Fleiß und ihr Wissensdurst sorgten dafür, dass sie die Höhere Töchterschule in Biebrich als Klassenbeste absolvierte. Im Alter von 13 Jahren verließ sie ihr Elternhaus und zog nach Frankfurt am Main, um dort zwei Jahre lang die Handelsschule für Mädchen zu besuchen.
„Es war mein geheimer Wunsch, das Elternhaus zu verlassen, in eine andere Stadt zu ziehen, allein zu leben, frei und unabhängig zu sein und mein Leben selbst in die Hand zu nehmen.“
In den darauffolgenden Jahren besuchte die vielseitig interessierte junge Frau Abendkurse und Vorträge zu Religion, Philosophie und Geschichte. 1910 trat sie in die SPD ein. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges engagierte sie sich in der Antikriegsbewegung und war sodann auch Mitbegründerin der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD).
Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitete sie hauptberuflich als Journalistin für die regionale Frankfurter Tageszeitung „Volksrecht“. Ab 1920 saß sie zuerst für die USPD, ab 1922 dann für die SPD im Reichstag (bis 1933). Somit gehörte sie zu den weiblichen Reichstagsabgeordneten in der Weimarer Republik. Zu ihren zentralen politischen Themen zählten Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Darüber hinaus war sie bewandert in Fragen der Wirtschafts- und Außenpolitik.
Positionierung gegen den Nationalsozialismus
Tony Sender gehörte zu jenen, die in der Weimarer Republik deutlich Stellung gegen die NSDAP bezogen. Früh warnte sie vor den Gefahren des Nationalsozialismus für die Demokratie. Mit der klaren und scharfen Rhetorik in ihren politischen Reden und Artikeln war sie den Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. So sehr, dass Joseph Goebbels forderte, man solle ihr einen Maulkorb verpassen.
Während der Wahlkämpfe zu den Reichstagswahlen im Juli und November 1932 wurde sie wiederholt von Nationalsozialisten bedroht und in ihrer politischen Arbeit gestört: Nicht nur, dass diese während Tony Senders Wahlkampfreden grölten und randalierten. Sie schlitzten auch ihre Autoreifen auf und tätigten nächtliche Drohanrufe an ihre private Telefonnummer.
Nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler war Tony Sender wegen ihres Engagements für die Weimarer Demokratie folglich besonders gefährdet. Als Jüdin und Sozialdemokratin angefeindet, floh sie nach Morddrohungen am 5. März 1933 in die Tschechoslowakei – nur mit dem, was sie am Leib trug.
„Was war unser Verbrechen? Die Freiheit zu sehr geliebt zu haben. Aber wie hätte ich anders gekonnt? War nicht mein ganzes Leben ein Kampf um mehr Freiheit gewesen – um gesellschaftliche Bedingungen, unter denen jedes Individuum die Bedürfnisse empfinden und befriedigen kann, die uns erst zum Menschen machen?“
Widerstand aus dem Exil
Vor allem mit der Kraft des Wortes – als Journalistin und Vortragsrednerin – leistete sie fortan Widerstand im Exil. Erst von der Tschechoslowakei aus, später aus Belgien und den USA. Als Vorstandsmitglied der 1941 in den USA gegründeten sozialistisch-demokratischen Emigrantengruppe Association of Free Germans war Tony Sender im Oktober 1942 Mitunterzeichnerin eines Papiers mit dem Titel „Für das Freie Deutschland von Morgen“. Es beinhaltete grundlegende Überlegungen zur Neugestaltung Deutschlands nach der NS-Gewaltherrschaft. Formulierte Ziele waren unter anderem die Errichtung einer demokratischen Republik, die Wiederherstellung der Freiheitsrechte und der Rechtsstaatlichkeit sowie die Rückkehr zur internationalen Gemeinschaft.
Tätigkeit für die Vereinten Nationen
Betrachtet man Tony Senders Streben nach Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, so wundert es nicht, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg als Vertreterin verschiedener Gewerkschaften beim Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen tätig war.
1947 nahm sie mit der Menschenrechtsaktivistin und ehemaligen First Lady der USA Eleanor Roosevelt an der Sitzung der UN-Menschenrechtskommission in Genf teil. Dabei wirkte sie an der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mit.
„Wir haben dem Rat den Entwurf eines internationalen Menschenrechtsgesetzes übergeben, dessen Basis […] die vier Freiheiten sein würden, die der vorherige Präsident F. D. Roosevelt proklamiert hat: Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Freiheit von Angst und Freiheit von Not. Unser Vertreter hat zudem die Durchsetzung der Menschenrechte nach einer weltweitgültigen Werteskala angeregt […].“
Erinnerung an Tony Sender
Warum es mir heute wichtig ist, an diese eindrucksvolle Persönlichkeit zu erinnern?
Weil Tony Sender am 26. Juni 1964 in New York starb. Heute ist ihr 55. Todestag. Ich denke, dies ist ein passender Anlass, ihrer zu gedenken.
Die „Frankfurter Neue Presse“ verfasste im Juli 1964 einen bemerkenswerten Nachruf auf sie, den ich gern zitiere:
„Sie war eine blendende Rednerin, die unerschrocken sowohl gegen die Nationalsozialisten wie gegen die Kommunisten Stellung nahm. Sie war Republikanerin von Kopf bis zu Fuß und so populär, daß sie bei den Wahlen am 5. März 1933 gleichzeitig von zwei Wahlkreisen (Frankfurt und Dresden) als Kandidatin aufgestellt wurde. […] Sie war nicht nur eine unermüdliche Kämpferin für die Begriffe der Demokratie, sondern auch ein sehr warmherziger Mensch, der durch seine Hilfsbereitschaft Tausenden geholfen hat.“
Enden möchte ich mit einem mahnenden Zitat von Tony Sender. Es sind Worte, die sie im Jahr 1936 im Exil in den USA sagte:
„Und wenn Sie fragen, wie ein kultiviertes Volk wie das deutsche solch ein Regime akzeptieren kann, antworte ich, dasselbe kann auch hier passieren, wenn die Menschen des Denkens müde werden.“
Warum erscheint uns diese Mahnung nur so bedrückend aktuell? Wir sollten sie uns zu Herzen nehmen.
Katharina Klasen ist Mitglied bei Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.
1 Kommentar
Andreas Dickerboom
30. Juni 2019 - 14:34Schöner Artikel zu einer beeindruckenden Frau! Übrigens verleiht die Stadt Frankfurt seit 1992 ihr zu Ehren den Tony-Sender-Preis: https://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=8648&_ffmpar%5B_id_inhalt%5D=21496