Demokratiegeschichten

Gewaltsamer Superlativ der Protestgeschichte – das Blutbad vor dem Reichstag (I)

Die Beteiligten der Revolution von 1918/19 sind sich in einer Sache einig: Die Monarchie und der Kaiser müssen weg! Was aber danach kommen soll, sorgt schnell für Uneinigkeit. Soll Deutschland eine parlamentarische Demokratie oder doch eine sozialistische Räterepublik werden?

Die Unterstützer:innen einer Räterepublik sind zwar in der Minderheit und ihre Idee verliert im Laufe der Revolution an Bedeutung. Doch sie schaffen es zumindest, Betriebsräte in der Konstitution der jungen Republik zu verankern.

Betriebsräte – aber wie?

Wahlplakat der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (1919). Quelle: gemeinfrei

So beinhaltet die Weimarer Verfassung, ausgehend von während der Novemberrevolution laut gewordenen Forderungen der Räterepublikaner:innen, dass Betriebsräte in Zusammenarbeit mit den Unternehmen für faire Lohn- und Arbeitsbedingungen sorgen sollen. Genaueres müsse dann in einem Betriebsrätegesetz (BRG) festgelegt werden. Den ersten Entwurf eines solchen diskutiert die Nationalversammlung im Mai 1919.

Mit den revolutionären Räten haben die darin beschriebenen Betriebsräte allerdings nicht mehr viel zu tun. Das Gesetz ist letztlich ein Produkt ungewöhnlicher Verbündeter: Die reformistischen Teile der SPD wollen den Betriebsräten nicht allzu viel Macht zusprechen, sondern sie an die parteinahen Gewerkschaften binden. Die Unternehmerverbände wiederum zielen darauf ab, die Macht der Betriebsräte generell zu reduzieren und auf einzelne Aspekte wie innerbetriebliche Wohlfahrtsmaßnahmen zu beschränken.

USPD und KPD wollen mehr

Vor allem die linken Teile der USPD, die nur wenige Sitze in der Nationalversammlung haben, und die KPD, die überhaupt nicht vertreten ist, positionieren sich entsprechend vehement gegen den Gesetzentwurf. An ihrer Seite stehen der Berliner Dachverband der Freien Gewerkschaften und die Betriebsrätezentrale. Die Gegner des Gesetzentwurfs fordern eine deutliche Selbstständigkeit der Betriebsräte und Unabhängigkeit von den Gewerkschaften. Sie wollen nicht nur Mitwirkung, sondern volle Kontrolle über die Betriebsführung durch Arbeiter, Angestellte und Beamte in allen privaten und staatlichen Betrieben.

So sollen ihrer Vorstellung nach die Betriebsräte die zentrale politische Institution sein, wie von ihnen bereits während der Revolution vorgesehen. Die Unternehmerschaft als gesellschaftliche Gruppe soll hingegen vollständig verschwinden. Obwohl USPD und KPD über eine treue Basis verfügen, unterstützt nur eine Minderheit aller Wahlberechtigten diese Ziele. Die beiden Parteien wissen, dass sie ein deutliches Zeichen setzen müssen, wenn sie ihre Ziele erreichen wollen.

Das Logo der „Roten Fahne“, zunächst Parteizeitung des Spartakusbundes und dann der KPD. Quelle: gemeinfrei

Mobilisierung der Massen

Im Voraus zur zweiten Lesung des BRG am 13. Januar – mittlerweile ist die Nationalversammlung ins Reichstagsgebäude nach Berlin umgezogen – planen USPD und KPD deshalb über Aufrufe in den Parteiorganen Freiheit und Rote Fahne eine große Masse an unzufriedenen Arbeiter:innen und Angestellten zu mobilisieren. Zunächst soll es Arbeitsniederlegungen ab 12:00 Uhr geben und anschließend zu einer Protestveranstaltung vor dem Reichstag kommen.

Heraus zum Kampf gegen das Betriebsrätegesetz, für das revolutionäre Rätesystem!

Aufruf von USPD und KPD am 13. Januar 1920

Die SPD dagegen versucht vehement, die Arbeiterschaft an einer Teilnahme an den Aktionen abzuhalten. Sie wirft der Gegenseite vor, dass es bei dem Streik eigentlich gar nicht um das Betriebsrätegesetz, sondern schlicht um einen Machtgewinn der extremen Linken gehe. Die Arbeiterschaft solle sich nicht von USPD und KPD instrumentalisieren lassen. Wie viele Berliner Arbeiter:innen sich davon überzeugen lassen, ist schwer zu sagen.

Der Protest beginnt

Der Schutz des Reichstagsgebäudes obliegt in diesen Tagen der vor allem aus ehemaligen Freikorpskämpfern bestehenden Sicherheitspolizei (Sipo). Diese war von der SPD in der Not ins Leben gerufen worden, nachdem die Berliner Polizei in der Novemberrevolution und während des sogenannten Spartakusaufstands völlig überfordert gewesen war. Doch die Angehörigen der Sipo haben absolut keine polizeiliche Ausbildung, was üblicherweise in kritischen Situationen kaum zu einer Deeskalation beiträgt.

Die Sicherheitspolizisten rekrutieren sich vor allem aus paramilitärischen Kampftrupps wie beispielsweise dem Freikorps Hülsen, hier bei einem Besuch von Reichswehrminister Gustav Noske im Januar 1919. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-R27092 / CC-BY-SA 3.0

Tatsächlich legen am 13. Januar ab 12:00 Uhr die Beschäftigen der meisten Großbetriebe in Berlin die Arbeit nieder und ziehen in Massen auf den Königsplatz vor dem Reichstag, den heutigen Platz der Republik. Die Freifläche ist in kurzer Zeit voll, sodass sich auch viele Menschen in den Seitenstraßen drängen. Schätzungen gehen von mindestens 100.000 Demonstrationsteilnehmenden aus, vermutlich waren es noch mehr, möglicherweise bis zu 150.000. Die Protestierenden sind entschlossen, aber zunächst friedlich.

Teil II dieses Beitrags erscheint am 16. Januar und ist dann hier zu finden.

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Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

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