Wohl keine Kanzlerschaft in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist in einem Maße mit Hoffnungen auf eine demokratischere Zukunft verknüpft wie die Amtszeit des Sozialdemokraten Willy Brandt. Gleichzeitig schockt der SPD-Kanzler die Deutschen wie wohl kaum ein anderer seiner Amtskolleg:innen, als die Nachricht seines Rücktritts vom 6. Mai 1974 die Öffentlichkeit erreicht. Es fließen Tränen und manch eine:r fragt sich wohl, wie es nun mit der Koalition aus SPD und FDP weitergehen wird.
Der Spion im Kanzleramt
Knapp zwei Wochen vorher, am 24. April 1974, verhaften die Sicherheitsbehörden Günter Guillaume, seit Oktober 1972 persönlicher Referent Brandts in Parteiangelegenheiten und einer seiner engsten Mitarbeiter. Gegen ihn und seine Frau besteht der dringende Tatverdacht, für die DDR, das andere Deutschland, zu spionieren. Der Zugriff erfolgt, obwohl es an tatsächlichen Beweisen zu diesem Zeitpunkt noch mangelt. Doch im Moment der Verhaftung gibt Guillaume unumwunden zu: „Ich bin Offizier der Nationalen Volksarmee der DDR und Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Ich bitte, meine Offiziersehre zu respektieren.“ Nun ist der Fall endgültig klar.

Schnell stellt sich heraus, dass Kanzler Brandt schon seit knapp einem Jahr vom Verdacht gegen Guillaume weiß, ihn aber auf Anraten der Geheimdienste aus Ermittlungsgründen auf seinem Posten beließ. Besonders brisant ist, dass die Familie Guillaume den Kanzler und seine Familie in den Urlaub nach Norwegen begleitete und der Spion dort sogar noch mehr Zugang zu geheimen Dokumenten erhielt, als dies in seinem normalen Arbeitsalltag der Fall ist. Hierfür muss nun irgendjemand die Verantwortung übernehmen.
Wer wusste wann was?

Am 26. April äußert sich Brandt zunächst in einer Aktuellen Stunde vor dem Bundestag zu den Ereignissen im Kanzleramt. Hier räumt der Kanzler zwar ein, dass er von dem Verdacht gewusst habe, Guillaume aber nie Zugang zu geheimen Dokumenten gehabt habe. Dies stimmt aber angesichts des Norwegenurlaubs nicht, was der Opposition später Munition für den Vorwurf gibt, der Kanzler habe versucht, das Parlament zu täuschen.
So steht Brandt seit Guillaumes Verhaftung unter enormem Druck. Dies gilt umso mehr, weil nicht belegte Behauptungen über sein Privatleben öffentlich werden. In einem Dossier des Bundeskriminalamts vom 1. Mai heißt es, Guillaume habe dem Kanzler immer wieder Frauen „zugeführt“. Die Sicherheitsdienste befürchten nun, dass dies enormes Erpressungs- und Diffamierungspotenzial gegenüber dem Kanzler berge, was wiederum der ganzen Bundesrepublik schaden könnte. Diese Behauptungen, die auf Aussagen von Brandts Personenschützern zurückgehen, lassen sich letztlich nie beweisen.
Der Skandal als Chance?
Anfang Mai bespricht sich Brandt mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden, Herbert Wehner. Als der Kanzler die Möglichkeit eines Rücktritts als Option auf den Tisch legt, widerspricht Wehner nicht. Ohnehin zweifelt der SPD-Kollege Wehner aufgrund innenpolitischer Versäumnisse des Kanzlers schon länger an der Regierungsfähigkeit und -willens Brandts. Er konzentriere sich zu sehr auf die Außenpolitik und vernachlässige seine Leute zu Hause. Die Aufdeckung des Guillaume-Skandals kommt der Partei und ihrer Ausrichtung für die Zukunft deshalb möglicherweise gar nicht ungelegen. Der Spionagefall kann also durchaus als Anlass, aber nicht zwingend als tatsächliche Ursache des Rücktritts Brandt verstanden werden.
Nur einen Tag nach dem Gespräch mit Wehner informiert der Kanzler dann die SPD-Führung darüber, dass er sich zum Rücktritt entschlossen habe. Am darauffolgenden Tag, dem 6. Mai 1974, schickt Willy Brandt sein offizielles Rücktrittsschreiben an Bundespräsident Gustav Heinemann, in dem es heißt, er übernehme „die politische Verantwortung für Fahrlässigkeiten im Zusammenhang mit der Agentenaffäre Guillaume“.

Kein vollständiger Abschied
In der Nacht erfahren dann die Medien und entsprechend kurz darauf die deutsche Öffentlichkeit vom Rücktritt ihres Kanzlers. Am nächsten Tag erklärt Brandt im Rundfunk:
„Was immer mir an Ratschlägen gegeben worden war, ich hätte nicht zulassen dürfen, dass während meines Urlaubs in Norwegen im Sommer vergangenen Jahres auch geheime Papiere durch die Hände des Agenten gegangen sind.“
Auch wenn Brandt zu diesem Zeitpunkt schon viel seiner ursprünglichen Beliebtheit eingebüßt hat, hätten viele Deutsche trotzdem nicht gedacht, dass er sich zu diesem Schritt durchringt. Für nicht wenige ist ihr Kanzler damit übers Ziel hinausgeschossen.
Die sozial-liberale Koalition wiederum überlebt den Rücktritt des Kanzlers tatsächlich. Am 16. Mai wählt der Bundestag Helmut Schmidt zu Brandts Nachfolger. Auch Brandt selbst möchte sich nicht komplett aus der Politik verabschieden. Er bleibt trotz seines Rücktritts vom Amt des Bundeskanzlers weitere 13 Jahre lang SPD-Vorsitzender.
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