Demokratiegeschichten

Warum Migration zur Demokratiegeschichte gehört

Schon auf der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Orte der Demokratiegeschichte 2021 wurde Migrationsgeschichte als ein Gebiet der Demokratiegeschichte identifiziert, das bisher zu wenig Beachtung gefunden hat. Dem vorausgegangen war am 25. Februar 2021 ein kritischer offener Brief des Decolonize-Bündnisses an die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien und den Sprecher:innenrat der Arbeitsgemeinschaft.

Dieser enthielt unter anderem den Vorwurf, die Beschäftigung mit Demokratiegeschichte sei zu einseitig auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft fokussiert. Sie blende beispielsweise den Kampf gegen koloniale Unterdrückung aus. Dies machte unmissverständlich deutlich, dass die demokratiegeschichtlichen Wurzeln unserer gegenwärtigen Migrationsgesellschaft vielschichtiger und multiperspektivischer sind als bisher meist angenommen und dargestellt.

Das historische Phänomen Migration

Der Historiker und Migrationsforscher Jochen Oltmer definiert Migration als „[r]äumliche Bewegungen von Menschen, die weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden haben und aus denen sozialer Wandel resultiert“ sowie als „[m]eist verbunden mit einem längerfristigen Aufenthalt andernorts und als Verlagerung des Lebensmittelpunktes von Individuen, Familien oder Kollektiven angelegt“.

Deutsche Emigrant:innen betreten im Hamburger Hafen ein Dampfschiff mit Kurs auf New York (19. Jhd.). Quelle: Lower East Side Tenement Museum, gemeinfrei

Beim Blick auf deutsche Geschichte wird schnell klar, dass auch sie stets von Menschen mit Migrationsgeschichte geprägt war. Sie brachten ihre Vorstellungen und Ideen mit, entwickelten sie weiter und verbreiteten sie dann wiederum an einem anderen Ort. Deshalb hält die Historikerin Maria Alexopoulou „eine grundsätzliche Demokratisierung der Geschichtsschreibung für geboten, die alle Bevölkerungsgruppen mit ihren Anliegen, Kämpfen und Beiträgen gleichermaßen historisierend in den Blick nimmt und sie nicht ignoriert oder an den Rand drängt“.

Migration und Demokratiegeschichte

Diese Feststellungen gelten in gleichem Maße für die Demokratiegeschichte. Denn auch freiheitlich-demokratische Werte, Normen und Konzepte sowie die Menschen, die sich dafür einsetzten, verbreiteten sich stets über die Grenzen von Staaten und Kulturkreisen hinweg. Was für die Geschichtsschreibung selbst gilt, trifft auch auf die Erinnerungs- und Gedenkkultur(en) zu. Sie wird in der Regel von der Mehrheitsgesellschaft geprägt und gestalten. Dadurch werden migrationsgeschichtliche Perspektiven und Erfahrungen nicht oder nur unzureichend berücksichtigt.

Der Befund von 2021, Migrationsgeschichte finde im Themenfeld Demokratiegeschichte noch zu wenig Beachtung, ist also weiterhin aktuell. Zwar gibt es inzwischen Aufsätze wie den von Heike Bungert zu den sogenannten „Forty-Eighters“ und auch Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. hat in Aufsätzen und Publikationen sowie auf diesem und dem Blog Migrationsgeschichten.de auf den Zusammenhang von Demokratie- und Migrationsgeschichte hingewiesen. Doch nun möchten wir mit einer neuen Handreichung diesen Prozess stärker systematisieren und versuchen, migrationsgeschichtliche Perspektiven explizit in die Auseinandersetzung mit der deutschen Demokratiegeschichte miteinzubeziehen.

Nicht nur die Bundesrepublik, auch die DDR war geprägt von Arbeitsmigration: Die aus dem Norden Vietnams stammende Nguyen Thi Oan beispielsweise arbeitete im Berliner Stammbetrieb des Kombinates Automatisierungsanlagenbau (1989). Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-1989-0303-020 / CC-BY-SA 3.0

Eine neue Publikation von GVFD

Die Broschüre „Migration in der Demokratiegeschichte“ richtet sich speziell an Institutionen und Organisationen, die sich bereits mit Demokratiegeschichte befassen, zum Beispiel die mittlerweile 100 Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Orte der Demokratiegeschichte. Sie möchte Möglichkeiten und Wege aufzeigen, wie migrationsgeschichtliche Perspektiven bisherige Blickwinkel auf Demokratiegeschichte erweitern können.

Dies geschieht anhand von acht historischen Beispielen, in denen sich Migrationsgeschichte mit der Geschichte von Demokratie und Partizipation verbindet. Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. hat die Beispiele dabei nicht nur selbst recherchiert. Einige wurden im Austausch mit Orten der Demokratiegeschichte in Form von mehreren Online-Runden zusammengetragen. So kann nun eine Vielfalt an historischen Akteur:innen vorgestellt werden. Darunter sind konkrete Personen, aber auch Organisationen und Strukturen aus den Themenfeldern Migrations- und Demokratiegeschichte.

Demokratiegeschichte in der Migrationsgesellschaft

Außerdem fragt die Handreichung, was uns die Geschichte von Demokratie und Demokratisierungsprozessen für die heutige Migrationsgesellschaft geben kann. Welche Beispiele und Methoden lohnen sich für eine Beschäftigung mit diesem Thema, was kann man daran vermitteln und lernen? Ziel der Handreichung ist es, die AG-Mitglieder und weitere im Themenfeld Demokratiegeschichte Arbeitende für das Thema Migrationsgeschichte und Migrationsgesellschaft heute zu sensibilisieren.

Der im heutigen Kamerun geborene Martin Dibobe, erster Schwarzer Zugführer bei der Berliner Hochbahn mit Kollegen (1902). Quelle: Archiv der BVG, gemeinfrei

Sie möchte erste Ansätze und Vorschläge liefern sowie anhand bestehender Projekte vorstellen, wie die Transformation einer überwiegend mehrheitsgesellschaftlich geprägten demokratiegeschichtlichen Erinnerungskultur in eine Erinnerungskultur der vielfältigen Migrationsgesellschaft vonstattengehen kann. Dies ist eine Herausforderung, der sich Akteur:innen der historisch-politischen Bildung sowie der Geschichtsvermittlung stellen sollten. Profitieren werden davon alle.

Phasen der Demokratieentwicklung

Konzeptuelle und strukturelle Grundlage der Broschüre stellt die Beschreibung der vier Phasen der Demokratiegeschichte dar. Diese hat Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. in vorherigen Publikationen entwickelt und bereits erfolgreich in der Vermittlungsarbeit angewandt.

In allen Phasen – „Demokratie erkämpfen“, „Demokratie etablieren“, „Demokratie leben, gestalten und weiterentwickeln“ sowie „Demokratie verteidigen und verlieren“ – lassen sich migrantische Einflüsse auf die deutsche Demokratiegeschichte verorten. Das Konzept beschreibt die deutsche Demokratiegeschichte als Abfolge von Entwicklungsabschnitten, die einander ablösen und in denen je nach Herrschaftsform verschiedene Formen demokratischen Handelns möglich sind.

Solidaritätsdemonstrationen in Solingen am Tatort eines rechtsextremistischen Brandanschlags im Juni 1993. Quelle: Sir James, CC BY-SA 2.0 DE DEED

Nicht für alle dieselbe Demokratie?

Bei der Darstellung der vier Phasen unter Berücksichtigung migrationsgeschichtlicher Perspektiven zeigt sich eine gewisse Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. So können zu verschiedenen Zeitpunkten in der deutschen Geschichte diejenigen Strukturen, die von der Mehrheitsgesellschaft als demokratisch verstanden werden, bestimmten migrantischen Gruppen die Teilhabe erschweren oder sie sogar vollständig davon ausschließen. Hier bleibt es weiterhin zu diskutieren, ob sich Phasen der Demokratiegeschichte – beispielsweise „Demokratie leben, gestalten und weiterentwickeln“ auf der einen und „Demokratie erkämpfen“ auf der anderen Seite – auch überschneiden können.

Der Zeitraum, in dem sich die historischen Beispiele der neuen Handreichung verorten lassen, erstreckt sich von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis hinein in die jüngste Vergangenheit. Geografischer Rahmen ist Deutschland beziehungsweise das staatliche Gebilde, das zum jeweiligen Zeitpunkt als „Deutschland“ verstanden wurde. Beide Dimensionen, zeitlicher und geografischer Rahmen, lassen sich dabei zweifellos erweitern – genau wie die Auswahl inhaltlicher Beispiele.

Die Handreichung versteht sich entsprechend als ein erster Aufschlag, der hoffentlich Inspirationen und Impulse für weitere Projekte in der Geschichtsvermittlung und der historisch-politischen Bildung geben und damit einen Beitrag zur Zusammenführung von Migrations- und Demokratiegeschichte in unserer gegenwärtigen Migrationsgesellschaft liefern wird.

Die Handreichung „Migration in der Demokratiegeschichte“ kann kostenfrei in der Geschäftsstelle von Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V. bestellt werden. Außerdem steht sie hier zum Download zur Verfügung.

Artikel Drucken
Über uns 
Ulli E. arbeitet bei Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V. als Projektkoordinator im Bereich Demokratiegeschichte.

0 Kommentare

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert